[Home Ipce] [Content Library 3]
Bemerkungen zur strafrechtlichen Behandlung der PädosexualitätMartin Dannecker
1. Zaghafte Annäherung an RationalitätEs gibt keine Handlungsweise, die stärker tabuiert ist als die Pädosexualität. [*1] Pädosexuelle Kontakte setzen, wenn sie bekannt werden, heftige Affekte frei und führen zur sozialen Ausgrenzung der als Verführer Etikettierten. Das gilt heute nicht weniger als vor 15 Jahren. Unter solchen Bedingungen ist es durchaus bemerkenswert, wenn der Sonderausschuß für die Strafrechtsreform sich darum bemüht hat, auch gegenüber der Pädosexualität eine vergleichsweise rationale Haltung einzunehmen. Abzulesen ist dieser Versuch zu einem distanzierten, nicht nur von Affekten geleiteten Umgang mit dem Phänomen Pädosexualität an dem vom Sonderausschuß vorgelegten Fragenkatalog zur Anhörung von Sachverständigen. Die eingeladenen Experten wurden nicht nur zu sozialethischen Stellungnahmen aufgefordert. Vielmehr sollten sie, empirisch begründet, auch zu folgenden Fragen sich äußern:
Solchen Fragen fehlt das geläufige Moralisieren im Umgang mit der Pädosexualität. Sie bewegen sich, da sie im Kern auf die Überprüfung eines definierten Schutzgutes, nämlich der „ungestörten sexuellen Entwicklung von Kindern” abzielen, innerhalb der von der modernen Rechtsgutlehre geforderten Rationalität. Ausgegangen wird dabei von einer generalisierten Traumatheorie, die pädosexuellen Handlungen eine so intensive Wirkung auf die kindliche Psyche unterstellt, daß es ihr unmöglich ist, die auf sie einströmenden Reize adäquat zu verarbeiten, was zu Störungen der sexuellen und psychischen Entwicklung führt. 2. TraumataAls Trauma kann ein einmaliges, plötzliches Ereignis fungieren. Auch ein einmaliger, flüchtiger und oberflächlicher pädosexueller Kontakt kann traumatisierend wirken. Diese Wirkung könnte allein durch die plötzliche Sexualisierung der Beziehung zwischen Erwachsenem und Kind auftreten, wobei die konkrete sexuelle Handlung relativ nebensächlich ist. Es können aber auch mehrere, für sich allein genommen jeweils bewältigbare Ereignisse sich in ihrer Wirkung zu einem Trauma summieren, wobei hier der Beziehungsmodus, in den die Ereignisse eingebettet sind, entscheidend für die traumatische Wirkung sein kann. Welchen Stellenwert die Sexualität innerhalb einer pädophilen Beziehung auch immer haben mag: Eingebettet ist die Sexualität in eine Beziehung, in der ein strukturelles Machtgefälle herrscht und in der nicht nur die psychosexuelle, sondern auch die physische Entwicklung des Kindes hinter der des Erwachsenen zurückbleibt. Diese Bedingungen können traumatisierend wirken, auch dann, wenn die sexuelle Handlung rücksichtsvoll und ohne erkennbare äußere Gewalt durchgesetzt wird. Solche Vorstellungen stimmen mit der gängigen Traumalehre überein. Sie auf die Pädosexualität anzuwenden, ist deshalb naheliegend, weil es völlig unbestreitbar ist,
Klinische Studien haben das immer wieder zeigen können. Nun sind aber Erkenntnisse, die aus der klinischen Erfahrung stammen, beispielsweise Einsichten aus langjährigen psychoanalytischen Behandlungen, nicht ohne weiteres auf das jeweilige Gesamtphänomen zu übertragen. Die psychoanalytische Klinik hat es immer mit einer hochspezifischen Situation zu tun, in der ein ganz bestimmtes Subjekt mit einer individuellen Lebensgeschichte im Zentrum steht. Stellt sich im Verlaufe einer psychotherapeutischen Behandlung ein exogenes Ereignis als das Moment heraus, das psychische und sexuelle Störungen determinierte, kann dieses Ereignis zwar für das behandelte Subjekt als traumatisches qualifiziert werden, Verallgemeinerungen können daraus jedoch nicht abgeleitet werden. Auch diese Einsicht verdankt sich der klinischen Erfahrung, denn es hat sich gezeigt, daß ein in seinen äußeren Merkmalen übereinstimmendes Ereignis, beispielsweise die Verführung eines Kindes durch einen Erwachsenen, völlig unterschiedliche Auswirkungen haben kann.
Demzufolge scheint es unmöglich zu sein, die Kategorie Trauma generalisierend zu benutzen. Das trifft in dieser Schärfe jedoch nicht zu, wenigstens dann nicht, wenn klar bleibt, welchen Status die Kategorie Trauma normalerweise hat, wenn wir sie generalisierend benutzen. Benutzen wir die Kategorie Trauma in generalisierender Weise, dann hat sie ganz entgegen dem Anschein keine erklärende, sondern lediglich eine deskriptiv-heuristische Funktion. Als solche verwenden wir sie für Ereignisse und Situationen, von denen wir, gewissermaßen aus einem Vorwissen heraus, annehmen, daß ihnen ein hohes Konfliktpotential inhärent ist. Wenden wir die Kategorie Trauma in diesem Sinne auf bestimmte Ereignisse und Situationen an, werden wir gleichsam aufgefordert, immer dann in genauere Untersuchungen einzutreten, wenn ein entsprechendes Ereignis stattgefunden hat und bekanntgeworden ist. Stell es sich danach heraus, daß ein so verstandenes Ereignis tatsächlich psychische Einschränkungen und Störungen determinierte, dann gewinnt, wenn auch vorerst nur für den genau untersuchten Einzelfall, die Kategorie Trauma einen erklärenden Status. Sollte sich bei wiederholten Untersuchungen zeigen, daß ein bestimmtes Ereignis häufig und mit einer hohen Wahrscheinlichkeit psychische Schäden determiniert, also als Trauma fungiert, dann wäre es berechtigt, gegenüber der Gesamtheit der definierten Ereignisse den Begriff Trauma als erklärenden anzuwenden. Das würde nicht ohne Auswirkungen auf die gesellschaftliche Praxis bleiben. Diese wäre dann in einer Weise zu verändern, daß den Subjekten traumatische Ereignisse erspart bleiben. Über die dafür geeigneten Instrumentarien kann man selbstverständlich streiten. Solange dem Gesetz eine generelle Schutzfunktion noch unterstellt werden kann, wird man die Kriminalisierung der entsprechenden Handlung als Mittel hierfür nicht ausschließen können. Mit dem zuletzt Gesagten dürfte die Relevanz der etwas umständlich klingenden Erläuterungen zur Kategorie Trauma für die strafrechtliche Diskussion des § 176 deutlich geworden sein. Der § 176 sanktioniert ein Verhalten, demgegenüber eine starke Neigung besteht, als gewiß zu unterstellen, was doch außerordentlich vage ist: die Schädigung der Kinder. Das drückt sich darin aus, daß im Zusammenhang pädosexueller Handlungen die Kategorie Trauma ungeprüft als erklärende benutzt wird. Daß der Sonderausschuß sich besann und die Kategorie Trauma in eine hypothetische transformierte, was durch die Fragen an die Sachverständigen geschah, ist bedeutungsvoll, jedenfalls dann, wenn man die Sachverständigenanhörung ernst nimmt. Er hat damit nicht nur riskiert, daß sich die Kategorie Trauma als hypothetisch bestätigt, sondern überdies auch, daß sich die den pädosexuellen Kontakten supponierten Schäden nicht nachweisen lassen. Ein solches Resultat wäre aber nicht weniger relevant für die gesellschaftliche Praxis als das oben erwähnte. Es würde verlangen, auf die generelle Kriminalisierung der Pädosexualität zu verzichten, sofern diese mit dem Schutz vor traumatischen Erlebnissen begründet wird. 3. SachverständigenanhörungOb die Vorschläge des Sonderausschusses zur strafrechtlichen Behandlung pädosexueller Kontakte und die seit der Strafrechtsreform gültige Fassung des § 176 solchen Überlegungen standhalten, kann nur durch eine Konfrontation mit den Antworten der Sachverständigen auf die zitierten Fragen überprüft werden. Im folgenden werden deshalb die prägnantesten Einsichten zur Wirkung pädosexueller Kontakte auf Kinder aus der Anhörung des Jahres 1970 wiedergegeben:
Jene Sachverständige, die selber empirische Untersuchungen durchgeführt bzw. auf empirische Literatur rekurriert haben, konnten die geläufige Auffassung über die Schädlichkeit pädosexueller Kontakte also nicht bestätigen. Ihren Erkenntnissen zufolge führen gewaltfreie pädosexuelle Handlungen als solche bei Kindern in der Regel nicht zu einem so schweren Trauma, daß deren psychische bzw. sexuelle Integrität dauernd geschädigt wird. Es kann zwar zu vorübergehenden Reaktionen kommen, diese aber führen normalerweise nicht zu schweren Entwicklungsstörungen. Es ist dem Sonderausschuß selbstverständlich nicht verborgen geblieben, daß durch diese Äußerungen die Legitimation der generellen Pönalisierung pädosexueller Kontakte außerordentlich brüchig wurde. Noch unter dem unmittelbaren Eindruck der vorgetragenen Erkenntnisse kam es in der 30. Sitzung des Sonderausschusses zu einem Dialog zwischen einem seiner Mitglieder und dem Sachverständigen Hanack, in dem das sich abzeichnende Begründungsdilemma thematisiert wurde. Fragend stellte der Abgeordnete Schlee, ein Mitglied der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, fest:
Darauf antwortet der Sachverständige Hanack:
4. Die Entscheidung des SonderausschussesTrotz der artikulierten Zweifel an der Legitimität der weiteren Aufrechterhaltung der generellen Pönalisierung hat sich der Sonderausschuß schließlich doch dazu entschlossen, an der Pönalisierung festzuhalten und bei Kindern unter 14 Jahren weiterhin
auszugehen. Eine auch nur annähernd zufriedenstellende Begründung dieser Entscheidung ist in dem Bericht des Sonderausschusses nicht zu finden. Der Sonderausschuß wollte offenbar den Schein von Rationalität wahren und hielt an dem definierten Schutzgut des § 176 StGB, der ungestörten sexuellen Entwicklung, fest. Gleichzeitig setzte er sich jedoch über die Aussagen der Experten hierzu hinweg, die im Kern besagen, daß die sexuelle Entwicklung eines Kindes durch gewaltlose pädosexuelle Erlebnisse normalerweise nicht gestört wird. Nun läßt uns der Sonderausschuß aber nicht ohne Hinweis auf die möglichen Motive seiner widersprüchlichen Entscheidung. Er versäumt es nämlich nicht, daran zu erinnern, daß
Das ist zwar eine durchaus zutreffende Beschreibung des kollektiven emotionalen Umgangs mit der Pädosexualität. Im Zusammenhang mit der Entscheidung des Ausschusses muß man sich allerdings fragen, ob diese antipädosexuellen Affekte den Entscheidungsprozeß nicht außerordentlich wirkungsvoll beeinflußt haben. Das könnte von zwei Seiten aus geschehen sein.
Wie dem auch sei: Der Versuch des Sonderausschusses, auch mit der Pädosexualität rational umzugehen, ist schließlich gescheitert, was insbesondere an der Dürftigkeit seiner Argumente für die Aufrechterhaltung der uneingeschränkten Pönalisierung abzulesen ist. 5. Tendenzen der ForschungMit einer gewissen Berechtigung läßt sich gegen die damals vorgetragenen katamnestischen Ergebnisse ebenso wie gegen die inzwischen vorgelegten Resultate zur Schädlichkeit pädosexueller Kontakte einwenden, die angewandten Untersuchungsinstrumente seien zu grob, um eventuelle psychische und sexuelle Beeinträchtigungen kurz- oder langfristiger Dauer adäquat zu erfassen. Solche Einwände gelten insbesondere gegen jene Untersuchungen, die im Wortsinne oberflächig sind, weil sie ausschließlich bewußtseinspsychologisch vorgehen. Manche der katamnestischen Untersuchungen sind überdies methodisch wenig ausgefeilt. Trotz dieser Einwände sind die Resultate der katamnestischen Untersuchungen nicht einfach unerheblich. Wenn nämlich ein Kind pädosexuelle Kontakte allemal traumatisch erleben würde, dann müßten sich zumindest Spuren des Traumas auch mit vergleichsweise groben Untersuchungsinstrumenten nachweisen lassen. Außerdem sind auch die gröberen katamnestischen Untersuchungen, verglichen mit jenen Studien oder Stellungnahmen, in denen Schädigungen entweder behauptet oder supponiert werden, methodisch geradezu subtil angelegt. Bei der letzteren fehlt es nicht nur häufig an empirischer Beweisführung für die aufgestellten Behauptungen, sondern sie sind überdies argumentativ auch noch außerordentlich dürftig. Diese qualitative Differenz hat ihren Grund im herrschenden sozialpsychologischen Klima. Während den katamnestischen Untersuchungen eine methodische Sorgfalt geradezu aufgezwungen wird, was beispielsweise an der Studie über „Sexualität, Gewalt und psychische Folgen” abzulesen ist, die Baurmann vorgelegt hat [*16], brauchen jene, die mit dem Strom schwimmen, sich derlei Mühen nicht zu unterwerfen. Schon die Entscheidung, mit welchem methodischen Instrumentarium auch immer, zu einem bestimmten Zeitpunkt nach dem Auftreten eines pädosexuellen Kontaktes die Wirkung dieses Ereignisses auf die Psyche des Kindes zu erforschen, ist ja von Zweifeln motiviert und insoweit ein Bruch mit der herrschenden Meinung, der nur unverdächtig ist, wer an dem Diktum
festhält. Wer sich aber Zweifel erlaubt und diese gar empirisch belegen möchte, muß schon sorgfältig vorgehen, um nicht in den Verdacht zu geraten, selber ein Kinderschänder oder doch ein Freund der Kinderschänder zu sein. In einem solchen Klima fällt es nicht nur Mitgliedern politischer Parteien schwer, die Tendenzen katamnestischer Untersuchungen zu akzeptieren. Auch Wissenschaftler halten lieber an der Vermutung fest, pädosexuelle Erfahrungen seien für Kinder allemal schädlich und zerstörerisch:
Ein derartiges Beharren auf der Schädlichkeit pädosexueller Kontakte ist weder mit methodischen Einwänden gegen die vorliegenden katamnestischen Ergebnisse noch mit der zutreffenden Feststellung,
zu erklären. Wenn nicht einmal die Widersprüchlichkeit der Forschungsresultate ausgehalten werden kann und stattdessen Zuflucht zu einem Gebilde genommen werden muß, das Adorno einmal eine „angesammelte Vorstellungsmasse” nannte [*20], stehen die Chancen für aufklärerisch gemeinte Erkenntnisse schlecht. Gleichwohl müssen sie benannt und wiederholt werden. Ableiten lassen sich aus der bisher vorliegenden Literatur zur Frage der Schäden von pädosexuellen Kontakten [*21] die in den folgenden drei Thesen zusammengefaßten Ergebnisse:
Diese Thesen bedürfen indes einer weiteren Überprüfung, die insbesondere die geschlechtsspezifischen Differenzen der durch pädosexuelle Kontakte „verursachten” Schäden zu berücksichtigen hätte. Baurmann hat in seiner Studie zeigen können, daß weibliche Opfer von angezeigten Sexualkontakten relativ häufiger als männliche geschädigt waren. [*22] Auch bei pädosexuellen Kontakten dürften die Folgen für die Mädchen gravierender und häufiger sein als für Jungen. Das hängt jedoch nicht vornehmlich mit dem Erlebnis eines pädosexuellen Kontaktes als solchem zusammen, sondern damit, daß unter denjenigen, die ein gleichgeschlechtliches kindliches Sexualobjekt bevorzugen, sich häufiger Personen befinden, die zu den strukturierten Pädophilen zu rechnen sind. Diese setzen ihre sexuellen Wünsche seltener mit Drohungen und Gewalt durch als Männer, die pädosexuelle Kontakte mit Mädchen haben. 6. Die Ungleichzeitigkeit in der PädosexualitätDie Pädosexualität ist nicht auf die strafrechtliche Diskussion um den § 176 StGB und die dafür relevante Frage der Schädlichkeit zu reduzieren. In der Sache selbst liegt etwas Prekäres, das auch auf die strafrechtliche Diskussion ausstrahlt und sie so schwierig macht. Das Heikle, das der Pädosexualität anhaftet, wird sofort deutlich, wenn wir versuchen, das Stichwort „sexuelle Selbstbestimmung” auf sie anzuwenden. Es ist üblich, den Kindern die Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung abzusprechen,
Zumeist wird ihre mangelnde Entscheidungsfähigkeit, wie auch von Trube-Becker, damit begründet, daß Kinder nicht
Damit ist aber das Prekäre, das der Pädosexualität anhaftet, nicht in seinem entscheidenden Punkt getroffen. Zwar sind alle pädosexuellen Kontakte von einer prinzipiellen Ungleichzeitigkeit gekennzeichnet. Diese entstehen aber nicht durch das Gefälle in der Fähigkeit, verantwortungsbewußt zu handeln. Diese Ungleichzeitigkeit wird vielmehr durch die sexuelle Entwicklung konstituiert. Unter das Stichwort Pädophilie werden, worauf Schorsch unlängst hinwies, außerordentlich vielfältige Phänomene subsumiert. Er zählte folgende Möglichkeiten auf,
Ein Phänomen, das in so heterogener Gestalt auftritt, ist schwer unter einen einheitlichen Gesichtspunkt zu bringen. Das einzig Gemeinsame der verschiedenartigen pädosexuellen Handlungsmuster besteht darin, daß der eine Interaktionspartner in der sexuellen Begegnung erwachsen und der andere noch ein Kind ist. Von dieser Ungleichzeitigkeit sind alle pädosexuellen Kontakte durchdrungen, unabhängig von dem setting, in dem sie stattfinden. Diese Differenz scheint trivial zu sein, und doch glaube ich, daß sich hinter ihr, betrachtet man sie unter dem Gesichtspunkt der sexuellen Entwicklung, ein qualitatives Moment verbirgt, das, wenn auch zumeist undurchschaut, auch für die emotionalen Irritationen beim Bekanntwerden pädosexueller Kontakte sorgt. Ich möchte deshalb versuchen, diese Differenz nachzuzeichnen, wobei ich das entlang solcher pädosexueller Begegnungen tun werde, bei denen der Erwachsene ein strukturierter Pädophiler ist. [*26] Dadurch wird einerseits meine Intention klarer, andererseits sind gerade sexuelle Beziehungen zwischen strukturierten Pädophilen und Kindern in jüngster Zeit häufig als „einvernehmliche Kontakte” dargestellt worden, in die sich weder das Strafrecht noch andere gesellschaftliche Instanzen einzumischen hätten. An der folgenden Darstellung könnte sich dann auch zeigen, ob diese Behauptung einer kritischen Überprüfung standhält. Sofern es sich bei pädosexuellen Beziehungen wirklich um solche handelt, die den Namen verdienen, und nicht um solche, die wegen der Willkürlichkeit der gesetzlichen Altersgrenzen zu solchen gemacht werden, gibt es innerhalb der Beziehung ein bedeutsames Altersgefälle. Dieses ist qualitativ dadurch gekennzeichnet, daß der eine Partner (das Kind) sich diesseits der Pubertät und der andere (der Erwachsene) sich jenseits der Pubertät befindet. In der Pubertät kommt es bekanntlich zu einer Reihe von charakteristischen Umgestaltungen in der sexuellen Organisation, von denen die Objektfindung für unseren Zusammenhang von zentraler Bedeutung ist. Mit Objektfindung ist hier die erst nach der Pubertät erreichbare Konturierung des sexuellen Objekts gemeint. Zwar werden die entscheidenden Weichen für die spätere Sexualorganisation schon in der frühen Kindheit gestellt. Aber erst nach der Pubertät erwirbt ein Individuum ein Bewußtsein über seine in der Kindheit präformierte Sexualorganisation. Nicht anders verhält es sich mit der Objektgewinnung in der Pubertät, die, genauer gesagt, eine Objektaneignung ist. In der Pubertät wird das präformierte Sexualobjekt sowohl bewußt als auch endgültig zentriert. Mit dieser bewußten Aneignung des sexuellen Objekts wird auch ein wesentliches Stück der sexuellen Identität angeeignet. Das Individuum beginnt sich entlang seines Sexualobjektes als heterosexuell, homosexuell, bisexuell oder pädosexuell etc. wahrzunehmen. Für das Sexualleben ist die bewußte Aneignung eines sexuellen Objekts insofern von Bedeutung, als schon aus den Reizen, die vom Objekt ausgehen, und durch die auf das Objekt zielenden Interessen sexuelle Lust gewonnen werden kann. Voraussetzung für diese Objektlust ist demnach die Aneignung des sexuellen Objekts und dessen Integration ins Bewußtsein. In der pädosexuellen Beziehung aber gibt es nur einen Partner mit solchen Voraussetzungen. In ihr fehlt eine Reziprozität der Objekte, weshalb es auch widersinnig ist, die kindliche Sexualität unter dem Blickwinkel der Pädosexualität zu betrachten. Pädosexuell kann nur der Erwachsene sein. Die Kluft, die zwischen Kind und Erwachsenem im Hinblick auf die Konturierung und Strukturierung des sexuellen Objekts herrscht, bringt es notwendig mit sich, daß dem Kind bei einem sexuellen Kontakt das Sexualobjekt sozusagen aufgedrängt wird. Das wird besonders am Anfang einer pädosexuellen Begegnung deutlich. Während das Interesse des Pädosexuellen am Kind von Beginn an auch sexueller Natur ist, kann das beim Kind nicht unterstellt werden. Eindrücklich schildert Brongersma diese Eindimensionalität des sexuellen Interesses, wenn er die Phantasien beschreibt, die spielende Kinder in einem Pädophilen auslösen können:
Nicht das Kind, sondern ausschließlich der Erwachsene verspürt einen sexuellen Reiz. Nehmen wir einmal an, der auf diese Weise gereizte Erwachsene gibt seinen Phantasien nach und ruft das Kind zu sich. Nehmen wir ferner an, das Kind folgt dem Ruf des Erwachsenen. Während der letztere bereits sexuelle Lust verspürt und sexuell erregt auf das Eintreffen des Kindes wartet, macht sich das Kind auf den Weg, ohne eine sexuelle Begegnung zu antizipieren. Zwischen dem Erwachsenen und dem Kind herrscht eine Disparität der Wünsche, die nur schwer zu überbrücken ist. Diese Disparität führt dazu, daß der Erwachsene nach dem Eintreffen des Kindes seine sexuellen Wünsche zuerst einmal wieder zurücknehmen muß. Mit großer Anstrengung wird er versuchen, eine Situation herzustellen, die es ihm ermöglicht zu glauben, die Wünsche des Kindes seien mit seinen eigenen kongruent. Dieser Versuch, die schwer überbrückbare Disparität der Wünsche doch zu vereinen, verleiht den pädosexuellen Beziehungen einen ritualisierten und zwanghaften Charakter:
Abzulesen ist an dieser Beschreibung der pädosexuellen Beziehung zweierlei.
Weil der strukturierte Pädophile um diese Differenz weiß, ist er zu dem hohen Maß an Selbstkontrolle gezwungen, von denen der Text zeugt. Der strukturierte Pädophile möchte unter allen Umständen vermeiden, gewalttätig zu erscheinen. Es scheint ihm aber nur schwer zu gelingen, seine diesbezüglichen Zweifel zu beruhigen. Nur durch die völlige Verleugnung seiner eigenen sexuellen Wünsche vermag er sich selbst zu exkulpieren. Charakteristisch für die grenzenlose Verleugnung der eigenen sexuellen Wünsche ist die in den apologetischen Texten vorherrschende Selbststilisierung der Pädosexuellen als bloße Vollstrecker der sexuellen Wünsche der Kinder. Die Selbstverleugnung der Pädophilen gipfelt in der Behauptung, daß dann, wenn es zu einem sexuellen Kontakt zwischen Kind und Erwachsenem komme, die Ursache dafür in der Mehrheit der Fälle beim Kind läge. Auch der wiederkehrende Verweis der Pädophilen auf die lebendige Sexualität der Kinder und ihre Anlehnung an entsprechenden Vorstellungen der Psychoanalyse haben die Funktion, sich selbst als bloße Exekutoren kindlicher sexueller Wünsche zu stilisieren. Die Aneignung der psychoanalytischen Vorstellungen durch die Pädosexuellen ist indes einseitig. Vereinbar mit der psychoanalytischen Lehre ist die von den Pädophilen geübte Kritik an der nach wie vor vorherrschenden ambivalenten Haltung gegenüber der kindlichen Sexualbetätigung. Ihr besonderes Sensorium trügt die Pädophilen auch nicht, wenn sie die fehlende Erotisierung der Beziehungen zwischen Eltern und Kindern bzw. Kindern und Erwachsenen beklagen. Soweit können sie sich zu Recht auf den frühen Freud berufen, der in den „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie” die Weckung des Sexualtriebes beim Kind durch die Zärtlichkeit der Mutter als unerläßlich für die sexuelle Entwicklung bezeichnete:
Ohne die Erotisierung der Beziehung zwischen Mutter und Kind, so ist diese Stelle zu lesen, kommt es zu einer Störung der sexuellen Entwicklung. Aus ihr ist aber keineswegs abzuleiten, daß die Kinder von den Müttern oder anderen Erwachsenen als vollgültige Sexualobjekte betrachtet und dementsprechend behandelt werden sollen. Ein solches Zurechtmodeln der psychoanalytischen Theorie der infantilen Sexualentwicklung durch die Pädophilen für ihre eigenen, leicht durchschaubaren Zwecke ist eine Verdinglichung, die überdies töricht zu nennen ist. [*30] Gewiß, die wache infantile Sexualität der Kinder spielt bei ihrer Verführung durch Erwachsene eine bedeutsame Rolle. An sie knüpft der pädophile Erwachsene an. Er interpretiert die Äußerungen der kindlichen Sexualität in der Verführungssituation jedoch in seiner eigenen Sprache. Ferenczi hat in einem Aufsatz mit dem programmatischen Titel
die Verführung als Mißverständnis bezeichnet, das folgendermaßen zustande komme:
Ferenczi verkennt keineswegs die erotische Aktivität der Kinder. Er beschreibt ihr Verhalten in der Verführungssituation vielmehr als zärtlich und verführerisch. Auf den ersten Blick scheint seine Beschreibung mit der neueren empirischen Literatur übereinzustimmen, in der die aktive Rolle des Kindes beim Zustandekommen eines pädosexuellen Kontaktes immer wieder betont wird. Doch diese Übereinstimmung ist bloß äußerlich. Das Kind erscheint zärtlich und verführerisch, gewiß.
Es möchte, ganz im Gegensatz zu der Behauptung jener Erwachsenen, deren sexuelles Objekt das Kind ist, nicht zum sexuellen Vollzug verführen. Gewiß, der strukturierte Pädophile sucht die Nähe zu Kindern nicht ausschließlich und primär zum Zwecke der Triebbefriedigung. Er sucht die Nähe zu Kindern, um in ihre Welt, die seiner eigenen Innenwelt entspricht, einzutauchen. Er möchte mit „den Kindern als Kind” [*32] leben, um sein eigenes, ihm verhaßtes Erwachsenendasein ungeschehen zu machen. Ihm gelingt es vorübergehend, die zwischen Kindern und Erwachsenen aufgerichtete Schranke zu verleugnen. Im Moment des Gelingens der illusionären Verkennung wird der Pädophile frei von den Konflikten, mit dem sein eigenes Erwachsensein belastet ist und von der Schuld, die nach seinem Erleben auf dem Erwachsensein überhaupt liegt. Im sexuellen Kontakt mit Kindern aber bleibt der Pädophile der Erwachsene, der er ist, und wird von den Kindern auch so erlebt. Verglichen mit dem kindlichen Genitale verfügt er über einen mächtigen und erwachsenen Phallus, der signifikant der gerade noch verleugneten Differenz zwischen Kindern und Erwachsenen wieder Geltung verschafft. Die Tragik der Pädosexuellen bestünde demnach darin, nicht hinter die erreichte Organisation ihrer Sexualität zurückgehen zu können. Weil sie erwachsen sind, werden sie gezwungen, Äußerungen der infantilen Sexualität in der ihrer Entwicklungsstufe gemäßen Sprache, d.h. in der Sprache der Leidenschaft zu interpretieren. Weil sie aber auf besondere Weise erwachsen (strukturiert) sind, müssen sie gleichzeitig glauben, zwischen ihnen und dem Kind herrsche auch sexuell eine tiefe Übereinstimmung. Eignet sich das vom Pädophilen geliebte Kind, nach seinem Eintritt in die Pubertät, das ihm gemäße Sexualobjekt an und bricht danach, wie das üblich ist, die sexuelle Beziehung zu seinem erwachsenen Liebhaber ab, ist auch für den Pädophilen nicht mehr zu verkennen, daß zwischen der Sexualität des Erwachsenen und der Sexualität des Kindes eine reale Differenz herrscht. Mit dem Zusammenbruch der illusionären Verkennung dieser Differenz wird offenbar, daß der Erwachsene nie das Objekt des sexuellen Verlangens des Kindes gewesen ist. 7. SchlußbemerkungGewaltlos pädosexuelle Begegnungen und Beziehungen sind, trotz der im letzten Absatz erhobenen kritischen Einwände, nichts Monströses.
Gemessen an der Wirklichkeit anderer Sexualitäten sind das jedoch nur quantitative Differenzen. Auch in der Ehe wird das sexuelle Selbstbestimmungsrecht der Frau nicht selten in rüder Weise verletzt. Ebenso wird auch innerhalb unverdächtiger sexueller Begegnungen die Reziprozität der sexuellen Bedürfnisbefriedigung oft genug nicht erreicht, mitunter von dem einen Partner nicht einmal intendiert. Das Strafrecht dürfte aber kaum das geeignete Instrument sein, um Idealforderungen dieser Art durchzusetzen. Die unqualifizierte Pönalisierung der Pädosexualität ist gleichfalls ein ungeeignetes Instrument zur Verbesserung des Binnenklimas in pädosexuellen Begegnungen oder Beziehungen. Im Gegenteil: die strafrechtliche Sanktionierung bringt, neben der vieldiskutierten sekundären Schädigung durch Verhöre und Prozesse, ein Klima in die pädosexuellen Beziehungen hinein, das deren prekäre Dimensionen verstärkt: Die Pönalisierung zwingt den Pädophilen stärker dazu, seinen kindlichen Partner zum abhängigen Mitverschwörer zu machen, als es die soziale Diskriminierung der Pädosexualität allein tun würde. Die Pönalisierung verstärkt ferner die Schuldgefühle der Erwachsenen, mit denen sich das Kind identifiziert. Unbestreitbar führt das zu zusätzlichen psychischen Belastungen der Kinder, die eine sexuelle Beziehung mit einem Erwachsenen haben.
Hinzunehmen wäre das
nur, wenn der § 176 StGB pädosexuelle Kontakte oder Beziehungen in
nennenswertem Ausmaß verhindern würde. Nach allen
sexualwissenschaftlichen Erkenntnissen ist das jedoch höchst
unwahrscheinlich. |