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Arthur Schopenhauer

Die Kunst, Recht zu behalten

[Das fast fertige Manuskript fand sich ohne Überschriften in Schopenhauers Nachlaß. Es entstand vermutlich um 1830; der Text wurde unter verschiedenen Titeln wie »Dialektik«, »Eristische Dialektik« oder »Die Kunst, Recht zu behalten« veröffentlicht.]

Eristische Dialektik

Eristische Dialektik1) ist die Kunst zu disputieren, und zwar so zu disputieren, daß man Recht behält, also per fas et nefas.2) Man kann nämlich in der Sache selbst objective Recht haben und doch in den Augen der Beisteher, ja bisweilen in seinen eignen, Unrecht behalten. Wann nämlich der Gegner meinen Beweis widerlegt, und dies als Widerlegung der Behauptung selbst gilt, für die es jedoch andre Beweise geben kann; in welchem Fall natürlich für den Gegner das Verhältnis umgekehrt ist: er behält Recht, bei objektivem Unrecht. Also die objektive Wahrheit eines Satzes und die Gültigkeit desselben in der Approbation der Streiter und Hörer sind zweierlei. (Auf letztere ist die Dialektik gerichtet.)

Woher kommt das? – Von der natürlichen Schlechtigkeit des menschlichen Geschlechts. Wäre diese nicht, wären wir von Grund aus ehrlich, so würden wir bei jeder Debatte bloß darauf ausgehn, die Wahrheit zu Tage zu fördern, ganz unbekümmert ob solche unsrer zuerst aufgestellten Meinung oder der des Andern gemäß ausfiele: dies würde gleichgültig, oder wenigstens ganz und gar Nebensache sein. Aber jetzt ist es Hauptsache. Die angeborne Eitelkeit, die besonders hinsichtlich der Verstandeskräfte reizbar ist, will nicht haben, daß was wir zuerst aufgestellt, sich als falsch und das des Gegners als Recht ergebe. Hienach hätte nun zwar bloß jeder sich zu bemühen, nicht anders als richtig zu urteilen: wozu er erst denken und nachher sprechen müßte. Aber zur angebornen Eitelkeit gesellt sich bei den Meisten Geschwätzigkeit und angeborne Unredlichkeit. Sie reden, ehe sie gedacht haben, und wenn sie auch hinterher merken, daß ihre Behauptung falsch ist und sie Unrecht haben; so soll es doch scheinen, als wäre es umgekehrt. Das Interesse für die Wahrheit, welches wohl meistens bei Aufstellung des vermeintlich wahren Satzes das einzige Motiv gewesen, weicht jetzt ganz dem Interesse der Eitelkeit: wahr soll falsch und falsch soll wahr scheinen.

Jedoch hat selbst diese Unredlichkeit, das Beharren bei einem Satz, der uns selbst schon falsch scheint, noch eine Entschuldigung: oft sind wir anfangs von der Wahrheit unsrer Behauptung fest überzeugt, aber das Argument des Gegners scheint jetzt sie umzustoßen; geben wir jetzt ihre Sache gleich auf, so finden wir oft hinterher, daß wir doch Recht haben: unser Beweis war falsch; aber es konnte für die Behauptung einen richtigen geben: das rettende Argument war uns nicht gleich beigefallen. Daher entsteht nun in uns die Maxime, selbst wann das Gegenargument richtig und schlagend scheint, doch noch dagegen anzukämpfen, im Glauben, daß dessen Richtigkeit selbst nur scheinbar sei, und uns während des Disputierens noch ein Argument, jenes umzustoßen, oder eines, unsre Wahrheit anderweitig zu bestätigen, einfallen werde: hiedurch werden wir zur Unredlichkeit im Disputieren beinahe genötigt, wenigstens leicht verführt. Diesergestalt unterstützen sich wechselseitig die Schwäche unsers Verstandes und die Verkehrtheit unsers Willens. Daraus kommt es, daß wer disputiert, in der Regel nicht für die Wahrheit, sondern für seinen Satz kämpft, wie pro ara et focis, und per fas et nefas verfährt, ja wie gezeigt nicht anders kann.

Jeder also wird in der Regel wollen seine Behauptung durchsetzen, selbst wann sie ihm für den Augenblick falsch oder zweifelhaft scheint.3) Die Hilfsmittel hiezu gibt einem jeden seine eigne Schlauheit und Schlechtigkeit einigermaßen an die Hand: dies lehrt die tägliche Erfahrung beim Disputieren; es hat also jeder seine natürliche Dialektik, so wie er seine natürliche Logik hat. Allein jene leitet ihn lange nicht so sicher als diese. Gegen logische Gesetze denken, oder schließen, wird so leicht keiner: falsche Urteile sind häufig, falsche Schlüsse höchst selten. Also Mangel an natürlicher Logik zeigt ein Mensch nicht leicht; hingegen wohl Mangel an natürlicher Dialektik: sie ist eine ungleich ausgeteilte Naturgabe (hierin der Urteilskraft gleich, die sehr ungleich ausgeteilt ist, die Vernunft eigentlich gleich). Denn durch bloß scheinbare Argumentation sich konfundieren, sich refutieren lassen, wo man eigentlich Recht hat, oder das umgekehrte, geschieht oft; und wer als Sieger aus einem Streit geht, verdankt es sehr oft, nicht sowohl der Richtigkeit seiner Urteilskraft bei Aufstellung seines Satzes, als vielmehr der Schlauheit und Gewandtheit, mit der er ihn verteidigte. Angeboren ist hier wie in allen Fällen das beste4): jedoch kann Übung und auch Nachdenken über die Wendungen, durch die man den Gegner wirft, oder die er meistens gebraucht, um zu werfen, viel beitragen, in dieser Kunst Meister zu werden. Also wenn auch die Logik wohl keinen eigentlich praktischen Nutzen haben kann: so kann ihn die Dialektik allerdings haben. Mir scheint auch Aristoteles seine eigentliche Logik (Analytik) hauptsächlich als Grundlage und Vorbereitung zur Dialektik aufgestellt zu haben und diese ihm die Hauptsache gewesen zu sein. Die Logik beschäftigt sich mit der bloßen Form der Sätze, die Dialektik mit ihrem Gehalt oder Materie, dem Inhalt: daher eben mußte die Betrachtung der Form als des allgemeinen der des Inhalts als des besonderen vorhergehn.

Aristoteles bestimmt den Zweck der Dialektik nicht so scharf wie ich getan: er gibt zwar als Hauptzweck das Disputieren an, aber zugleich auch das Auffinden der Wahrheit (Topik, I, 2); später sagt er wieder: man behandle die Sätze philosophisch nach der Wahrheit, dialektisch nach dem Schein oder Beifall, Meinung Andrer (doxa) Topik, I, 12. Er ist sich der Unterscheidung und Trennung der objektiven Wahrheit eines Satzes von dem Geltendmachen desselben oder dem Erlangen der Approbation zwar bewußt; allein er hält sie nicht scharf genug auseinander, um der Dialektik bloß letzteres anzuweisen.5) Seinen Regeln zu letzterem Zweck sind daher oft welche zum ersteren eingemengt. Daher es mir scheint, daß er seine Aufgabe nicht rein gelöst hat.6) Aristoteles hat in den Topicis die Aufstellung der Dialektik mit seinem eignen wissenschaftlichen Geist äußerst methodisch und systematisch angegriffen, und dies verdient Bewunderung, wenn gleich der Zweck, der hier offenbar praktisch ist, nicht sonderlich erreicht worden. Nachdem er in den Analyticis die Begriffe, Urteile und Schlüsse der reinen Form nach betrachtet hatte, geht er nun zum Inhalt über, wobei er es eigentlich nur mit den Begriffen zu tun hat: denn in diesen liegt ja der Gehalt. Sätze und Schlüsse sind rein für sich bloße Form: die Begriffe sind ihr Gehalt.7) – Sein Gang ist folgender. Jede Disputation hat eine Thesis oder Problem (diese differieren bloß in der Form) und dann Sätze, die es zu lösen dienen sollen. Es handelt sich dabei immer um das Verhältnis von Begriffen zu einander. Dieser Verhältnisse sind zunächst vier. Man sucht nämlich von einem Begriff, entweder 1. seine Definition, oder 2. sein Genus, oder 3. sein Eigentümliches, wesentliches Merkmal, proprium, idion, oder 4. sein accidens, d. i. irgend eine Eigenschaft, gleichviel ob Eigentümliches und Ausschließliches oder nicht, kurz ein Prädikat. Auf eins dieser Verhältnisse ist das Problem jeder Disputation zurückzuführen. Dies ist die Basis der ganzen Dialektik. In den acht Büchern derselben stellt er nun alle Verhältnisse, die Begriffe in jenen vier Rücksichten wechselseitig zu einander haben können, auf und gibt die Regeln für jedes mögliche Verhältnis; wie nämlich ein Begriff sich zum andern verhalten müsse, um dessen proprium, dessen accidens, dessen genus, dessen definitum oder Definition zu sein: welche Fehler bei der Aufstellung leicht gemacht werden, und jedesmal was man demnach zu beobachten habe, wenn man selbst ein solches Verhältnis aufstellt (kataskeuazein), und was man, nachdem der andre es aufgestellt, tun könne, es umzustoßen (anaskeuazein). Die Aufstellung jeder solchen Regel oder jedes solchen allgemeinen Verhältnisses jener Klassen-Begriffe zu einander nennt er topoV, locus, und gibt 382 solcher topoi: daher Topica. Diesem fügt er noch einige allgemeine Regeln bei, über das Disputieren überhaupt, die jedoch lange nicht erschöpfend sind.

Der topoV ist also kein rein materieller, bezieht sich nicht auf einen bestimmten Gegenstand, oder Begriff; sondern er betrifft immer ein Verhältnis ganzer Klassen von Begriffen, welches unzähligen Begriffen gemein sein kann, sobald sie zu einander in einer der erwähnten vier Rücksichten betrachtet werden, welches bei jeder Disputation statt hat. Und diese vier Rücksichten haben wieder untergeordnete Klassen. Die Betrachtung ist hier also noch immer gewissermaßen formal, jedoch nicht so rein formal wie in der Logik, da sie sich mit dem Inhalt der Begriffe beschäftigt, aber auf eine formelle Weise, nämlich sie gibt an, wie der Inhalt des Begriffs A sich verhalten müsse zu dem des Begriffs B, damit dieser aufgestellt werden könne als dessen genus oder dessen proprium (Merkmal) oder dessen accidens oder dessen Definition oder nach den diesen untergeordneten Rubriken, von Gegenteil antikeimenon, Ursache und Wirkung, Eigenschaft und Mangel usw.: und um ein solches Verhältnis soll sich jede Disputation drehen. Die meisten Regeln, die er nun eben als topoi über diese Verhältnisse angibt, sind solche, die in der Natur der Begriffsverhältnisse liegen, deren jeder sich von selbst bewußt ist, und auf deren Befolgung vom Gegner er schon von selbst dringt, eben wie in der Logik, und die es leichter ist im speziellen Fall zu beobachten oder ihre Vernachlässigung zu bemerken, als sich des abstrakten topoV darüber zu erinnern: daher eben der praktische Nutzen dieser Dialektik nicht groß ist. Er sagt fast lauter Dinge, die sich von selbst verstehn und auf deren Beachtung die gesunde Vernunft von selbst gerät. Beispiele: »Wenn von einem Dinge das genus behauptet wird, so muß ihm auch irgend eine species dieses genus zukommen; ist dies nicht, so ist die Behauptung falsch: z. B. es wird behauptet, die Seele habe Bewegung; so muß ihr irgend eine bestimmte Art der Bewegung eigen sein, Flug, Gang, Wachstum, Abnahme usw. – ist dies nicht, so hat sie auch keine Bewegung. – Also wem keine Spezies zukommt, dem auch nicht das genus: das ist der topoV.« Dieser topoV gilt zum Aufstellen und zum Umwerfen. Es ist der neunte topoV. Und umgekehrt: wenn das Genus nicht zukommt, kommt auch keine Spezies zu: z. B. Einer soll (wird behauptet) von einem Andern schlecht geredet haben: – Beweisen wir, daß er gar nicht geredet hat, so ist auch jenes nicht: denn wo das genus nicht ist, kann die Spezies nicht sein.

Unter der Rubrik des Eigentümlichen, proprium, lautet der 215. locus so: »Erstlich zum Umstoßen: wenn der Gegner als Eigentümliches etwas angibt, das nur sinnlich wahrzunehmen ist, so ists schlecht angegeben: denn alles Sinnliche wird ungewiß, sobald es aus dem Bereich der Sinne hinaus kommt: z. B. er setzt als Eigentümliches der Sonne, sie sei das hellste Gestirn, das über die Erde zieht: – das taugt nicht: denn wenn die Sonne untergegangen, wissen wir nicht ob sie über die Erde zieht, weil sie dann außer dem Bereich der Sinne ist. – Zweitens zum Aufstellen: das Eigentümliche wird richtig angegeben, wenn ein solches aufgestellt wird, das nicht sinnlich erkannt wird, oder wenn sinnlich erkannt, doch notwendig vorhanden: z. B. als Eigentümliches der Oberfläche werde angegeben, daß sie zuerst gefärbt wird; so ist dies zwar ein sinnliches Merkmal, aber ein solches, das offenbar allezeit vorhanden, also richtig.« – Soviel um Ihnen einen Begriff von der Dialektik des Aristoteles zu geben. Sie scheint mir den Zweck nicht zu erreichen: ich habe es also anders versucht. Cicero's Topica sind eine Nachahmung der Aristotelischen aus dem Gedächtnis: höchst seicht und elend; Cicero hat durchaus keinen deutlichen Begriff von dem, was ein topus ist und bezweckt, und so radotiert er ex ingenio allerhand Zeug durcheinander, und staffiert es reichlich mit juristischen Beispielen aus. Eine seiner schlechtesten Schriften.

Um die Dialektik rein aufzustellen muß man, unbekümmert um die objektive Wahrheit (welche Sache der Logik ist), sie bloß betrachten als die Kunst, Recht zu behalten, welches freilich um so leichter sein wird, wenn man in der Sache selbst Recht hat. Aber die Dialektik als solche muß bloß lehren, wie man sich gegen Angriffe aller Art, besonders gegen unredliche verteidigt, und eben so wie man selbst angreifen kann, was der Andre behauptet, ohne sich selbst zu widersprechen und überhaupt ohne widerlegt zu werden. Man muß die Auffindung der objektiven Wahrheit rein trennen von der Kunst, seine Sätze als wahr geltend zu machen: jenes ist [Aufgabe] einer ganz andern pragmateia, es ist das Werk der Urteilskraft, des Nachdenkens, der Erfahrung, und gibt es dazu keine eigne Kunst; das zweite aber ist der Zweck der Dialektik. Man hat sie definiert als die Logik des Scheins: falsch: dann wäre sie bloß brauchbar zur Verteidigung falscher Sätze; allein auch wenn man Recht hat, braucht man Dialektik, es zu verfechten, und muß die unredlichen Kunstgriffe kennen, um ihnen zu begegnen; ja oft selbst welche brauchen, um den Gegner mit gleichen Waffen zu schlagen. Dieserhalb also muß bei der Dialektik die objektive Wahrheit bei Seite gesetzt oder als akzidentell betrachtet werden: und bloß darauf gesehn werden, wie man seine Behauptungen verteidigt und die des Andern umstößt; bei den Regeln hiezu darf man die objektive Wahrheit nicht berücksichtigen, weil meistens unbekannt ist, wo sie liegt8): oft weiß man selbst nicht, ob man Recht hat oder nicht, oft glaubt man es und irrt sich, oft glauben es beide Teile: denn veritas est in puteo (en buJv h alhJeia, Demokrit); beim Entstehn des Streits glaubt in der Regel jeder die Wahrheit auf seiner Seite zu haben: beim Fortgang werden beide zweifelhaft: das Ende soll eben erst die Wahrheit ausmachen, bestätigen. Also darauf hat sich die Dialektik nicht einzulassen: so wenig wie der Fechtmeister berücksichtigt, wer bei dem Streit, der das Duell herbeiführte, eigentlich Recht hat: treffen und parieren, darauf kommt es an, eben so in der Dialektik: sie ist eine geistige Fechtkunst; nur so rein gefaßt, kann sie als eigne Disziplin aufgestellt werden: denn setzen wir uns zum Zweck die reine objektive Wahrheit, so kommen wir auf bloße Logik zurück; setzen wir hingegen zum Zweck die Durchführung falscher Sätze, so haben wir bloße Sophistik. Und bei beiden würde vorausgesetzt sein, daß wir schon wüßten, was objektiv wahr und falsch ist: das ist aber selten zum voraus gewiß. Der wahre Begriff der Dialektik ist also der aufgestellte: geistige Fechtkunst zum Rechtbehalten im Disputieren, obwohl der Name Eristik passender wäre: am richtigsten wohl Eristische Dialektik: Dialectica eristica. Und sie ist sehr nützlich: man hat sie mit Unrecht in neuern Zeiten vernachlässigt.

Da nun in diesem Sinne die Dialektik bloß eine auf System und Regel zurückgeführte Zusammenfassung und Darstellung jener von der Natur eingegebnen Künste sein soll, deren sich die meisten Menschen bedienen, wenn sie merken, daß im Streit die Wahrheit nicht auf ihrer Seite liegt, um dennoch Recht zu behalten; – so würde es auch dieserhalb sehr zweckwidrig sein, wenn man in der wissenschaftlichen Dialektik auf die objektive Wahrheit und deren Zutageförderung Rücksicht nehmen wollte, da es in jener ursprünglichen und natürlichen Dialektik nicht geschieht, sondern das Ziel bloß das Rechthaben ist. Die wissenschaftliche Dialektik in unserm Sinne hat demnach zur Hauptaufgabe, jene Kunstgriffe der Unredlichkeit im Disputieren aufzustellen und zu analysieren: damit man bei wirklichen Debatten sie gleich erkenne und vernichte. Eben daher muß sie in ihrer Darstellung eingeständlich bloß das Rechthaben, nicht die objektive Wahrheit, zum Endzweck nehmen.

Mir ist nicht bekannt, daß in diesem Sinne etwas geleistet wäre, obwohl ich mich weit und breit umgesehn habe9): es ist also ein noch unbebautes Feld. Um zum Zwecke zu kommen, müßte man aus der Erfahrung schöpfen, beachten, wie, bei den im Umgange häufig vorkommenden Debatten, dieser oder jener Kunstgriff von einem und dem andern Teil angewandt wird, sodann die unter andern Formen wiederkehrenden Kunstgriffe auf ihr Allgemeines zurückführen, und so gewisse allgemeine Stratagemata aufstellen, die dann sowohl zum eignen Gebrauch, als zum Vereiteln derselben, wenn der Andre sie braucht, nützlich wären.

Folgendes sei als erster Versuch zu betrachten.

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  1. Bei den Alten werden Logik und Dialektik meistens als Synonyme gebraucht: bei den Neueren ebenfalls. Zurück [< Zurück]
     

  2. Eristik wäre nur ein härteres Wort für dieselbe Sache. – Aristoteles (nach Diog. Laert. V, 28) stellte zusammen Rhetorik und Dialektik, deren Zweck die Überredung, to piJanon, sei; sodann Analytik und Philosophie, deren Zweck die Wahrheit. – Dialektikh de esti tecnh logwn, di' hV anaskeuazomen ti h kataskeuazomen, ex erwthsewV kai apokrisewV tvn prosdialegomenwn, Diog. Laert. III, 48 in vita Platonis. – Aristoteles unterscheidet zwar 1. die Logik oder Analytik, als die Theorie oder Anweisung zu den wahren Schlüssen, den apodiktischen; 2. die Dialektik oder Anweisung zu den für wahr geltenden, als wahr kurrenten – endoxa, probabilia (Topik, I, 1 und 12) – Schlüssen, wobei zwar nicht ausgemacht ist, daß sie falsch sind, aber auch nicht, daß sie wahr (an und für sich) sind, indem es darauf nicht ankommt. Was ist denn aber dies anders als die Kunst, Recht zu behalten, gleichviel ob man es im Grunde habe oder nicht? Also die Kunst, den Schein der Wahrheit zu erlangen unbekümmert um die Sache. Daher wie anfangs gesagt. Aristoteles teilt eigentlich die Schlüsse in logische, dialektische, so wie eben gesagt: dann 3. in eristische (Eristik), bei denen die Schlußform richtig ist, die Sätze selbst aber, die Materie, nicht wahr sind, sondern nur wahr scheinen, und endlich 4. in sophistische (Sophistik), bei denen die Schlußform falsch ist, jedoch richtig scheint. Alle drei letzten Arten gehören eigentlich zur eristischen Dialektik, da sie alle ausgehn nicht auf die objektive Wahrheit, sondern auf den Schein derselben, unbekümmert um sie selbst, also auf das Recht behalten. Auch ist das Buch über die Sophistischen Schlüsse erst später allein ediert: es war das letzte Buch der Dialektik.
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  3. Machiavelli schreibt dem Fürsten vor, jeden Augenblick der Schwäche seines Nachbarn zu benutzen, um ihn anzugreifen: weil sonst dieser einmal den Augenblick benutzen kann, wo jener schwach ist. Herrschte Treue und Redlichkeit, so wäre es ein andres: weil man sich aber deren nicht zu versehn hat, so darf man sie nicht üben, weil sie schlecht bezahlt wird: – eben so ist es beim Disputieren: gebe ich dem Gegner Recht, sobald er es zu haben scheint, so wird er schwerlich dasselbe tun, wann der Fall sich umkehrt; er wird vielmehr per nefas verfahren: also muß ich's auch. Es ist leicht gesagt, man soll nur der Wahrheit nachgehn ohne Vorliebe für seinen Satz; aber man darf nicht voraussetzen, daß der Andre es tun werde: also darf man's auch nicht. Zudem, wollte ich, sobald es mir scheint, er habe Recht, meinen Satz aufgeben, den ich doch vorher durchdacht habe; so kann es leicht kommen, daß ich, durch einen augenblicklichen Eindruck verleitet, die Wahrheit aufgebe, um den Irrtum anzunehmen. Zurück [< Zurück]
     

  4. Doctrina sed vim promovet insitam. Zurück [< Zurück]
     

  5. Und andrerseits ist er im Buche de elenchis sophisticis wieder zu sehr bemüht, die Dialektik zu trennen von der Sophistik und Eristik: wo der Unterschied darin liegen soll, daß dialektische Schlüsse in Form und Gehalt wahr, eristische oder sophistische (die sich bloß durch den Zweck unterscheiden, der bei ersteren [Eristik] das Rechthaben an sich, bei letztern [Sophistik] das dadurch zu erlangende Ansehn und das durch dieses zu erwerbende Geld ist) aber falsch sind. Ob Sätze dem Gehalt nach wahr sind, ist immer viel zu ungewiß, als daß man daraus den Unterscheidungsgrund nehmen sollte; und am wenigsten kann der Disputierende selbst darüber völlig gewiß sein: selbst das Resultat der Disputation gibt erst einen unsichern Aufschluß darüber. Wir müssen also unter Dialektik des Aristoteles Sophistik, Eristik, Peirastik mitbegreifen und sie definieren als die Kunst, im Disputieren Recht zu behalten: wobei freilich das größte Hilfsmittel ist, zuvörderst in der Sache Recht zu haben; allein für sich ist dies bei der Sinnesart der Menschen nicht zureichend und andrerseits bei der Schwäche ihres Verstandes nicht durchaus notwendig: es gehören also noch andre Kunstgriffe dazu, welche, eben weil sie vom objektiven Rechthaben unabhängig sind, auch gebraucht werden können, wenn man objektiv Unrecht hat: und ob dies der Fall sei, weiß man fast nie ganz gewiß.

    Meine Ansicht also ist, die Dialektik von der Logik schärfer zu sondern, als Aristoteles getan hat, der Logik die objektive Wahrheit, so weit sie formell ist, zu lassen, und die Dialektik auf das Rechtbehalten zu beschränken; dagegen aber Sophistik und Eristik nicht so von ihr zu trennen, wie Aristoteles tut, da dieser Unterschied auf der objektiven materiellen Wahrheit beruht, über die wir nicht sicher zum voraus im klaren sein können, sondern mit Pontius Pilatus sagen müssen: was ist die Wahrheit? – denn veritas est in puteo: en buJv h alhJeia: Spruch des Demokrit, Diog. Laert. IX, 72. Es ist leicht zu sagen, daß man beim Streiten nichts anderes bezwecken soll als die Zutageförderung der Wahrheit; allein man weiß ja noch nicht, wo sie ist: man wird durch die Argumente des Gegners und durch seine eigenen irregeführt. – Übrigens re intellecta, in verbis simus faciles: da man den Namen Dialektik im Ganzen für gleichbedeutend mit Logik zu nehmen pflegt, wollen wir unsre Disziplin Dialectica eristica, eristische Dialektik nennen. Zurück [< Zurück]
     

  6. (Man muß allemal den Gegenstand einer Disziplin von dem jeder andern rein sondern.)
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  7. Die Begriffe lassen sich aber unter gewisse Klassen bringen, wie Genus und Species, Ursache und Wirkung, Eigenschaft und Gegenteil, Haben und Mangel, u. dgl. m.; und für diese Klassen gelten einige allgemeine Regeln: diese sind die loci, topoi. – Z. B. ein Locus von Ursache und Wirkung ist: »die Ursache der Ursache ist Ursache der Wirkung« [Christian Wolff, Ontologia, § 928], angewandt: »die Ursache meines Glücks ist mein Reichtum: also ist auch der, welcher mir den Reichtum gab, Urheber meines Glücks.« Loci von Gegensätzen: 1. Sie schließen sich aus, z. B. grad und krumm. 2. Sie sind im selben Subjekt: z. B. hat die Liebe ihren Sitz im Willen (epiJumhtikon), so hat der Haß ihn auch. – Ist aber dieser im Sitz des Gefühls (JumoeideV), dann die Liebe auch. – Kann die Seele nicht weiß sein, so auch nicht schwarz. – 3. Fehlt der niedrigre Grad, so fehlt auch der höhere: ist ein Mensch nicht gerecht, so ist er auch nicht wohlwollend. – Sie sehn hieraus, daß die Loci sind gewisse allgemeine Wahrheiten, die ganze Klassen von Begriffen treffen, auf die man also bei vorkommenden einzelnen Fällen zurückgehn kann, um aus ihnen seine Argumente zu schöpfen, auch um sich auf sie als allgemein einleuchtend zu berufen. Jedoch sind die meisten sehr trüglich und vielen Ausnahmen unterworfen: z. B. es ist ein locus: entgegengesetzte Dinge haben entgegengesetzte Verhältnisse, z. B. die Tugend ist schön, das Laster häßlich. – Freundschaft ist wohlwollend, Feinschaft übelwollend. – Aber nun: Verschwendung ist ein Laster, also Geiz eine Tugend; Narren sagen die Wahrheit, also lügen die Weisen: geht nicht. Tod ist Vergehn, also Leben Entstehn: falsch.

    Beispiel von der Trüglichkeit solcher topi: Scotus Eriugena im Buch de praedestinatione, Kap. 3, will die Ketzer widerlegen, welche in Gott zwei praedestinationes (eine der Erwählten zum Heil, eine der Verworfnen zur Verdammnis) annahmen, und gebraucht dazu diesen (Gott weiß woher genommnen) topus: »Omnium, quae sunt inter se contraria, necesse est eorum causas inter se esse contrarias; unam enim eandemque causam diversa, inter se contraria efficere ratio prohibet.« So! – aber die experientia docet, daß dieselbe Wärme den Ton hart und das Wachs weich macht, und hundert ähnliche Dinge. Und dennoch klingt der topus plausibel. Er baut seine Demonstration aber ruhig auf dem topus auf, die geht uns weiter nichts an. – Eine ganze Sammlung von Locis mit ihren Widerlegungen hat Baco de Verulamio zusammengestellt unter dem Titel Colores boni et mali. – Sie sind hier als Beispiele zu brauchen. Er nennt sie Sophismata. Als ein Locus kann auch das Argument betrachtet werden, durch welches im Symposium Sokrates dem Agathon, der der Liebe alle vortrefflichen Eigenschaften, Schönheit, Güte usw. beigelegt hatte, das Gegenteil beweist: »Was einer sucht, das hat er nicht: nun sucht die Liebe das Schöne und Gute; also hat sie solche nicht.« Es hat etwas Scheinbares, daß es gewisse allgemeine Wahrheiten gäbe, die auf alles anwendbar wären und durch die man also alle vorkommenden einzeln noch so verschiedenartigen Fälle, ohne näher auf ihr Spezielles einzugehn, entscheiden könnte. (Das Gesetz der Kompensation ist ein ganz guter locus.) Allein es geht nicht, eben weil die Begriffe durch Abstraktion von den Differenzen entstanden sind und daher das Verschiedenartigste begreifen, welches sich wieder hervortut, wenn mittels der Begriffe die einzelnen Dinge der verschiedensten Arten aneinandergebracht werden und nur nach den obern Begriffen entschieden wird. Es ist sogar dem Menschen natürlich beim Disputieren, sich, wenn er bedrängt wird, hinter irgend einen allgemeinen topus zu retten. Loci sind auch die lex parsimoniae naturae; – auch: natura nihil facit frustra. – Ja, alle Sprichwörter sind loci mit praktischer Tendenz. Zurück [< Zurück]
     

  8. Oft streiten zwei sehr lebhaft; und dann geht jeder mit der Meinung des Andern nach Hause: sie haben getauscht. Zurück [< Zurück]
     

  9. Nach Diogenes Laertius gab es unter den vielen rhetorischen Schriften des Theophrastos, die sämtlich verloren gegangen, eine, deren Titel war ’Agwnistikon thV peri touV eristikouV logouV JewriaV. Das wäre unsre Sache. [< Zurück]

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