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Von Straffreiheit bis Todesstrafe

Sexueller Missbrauch. Gibt es eine Lösung?

Dr Frits Bernard, Klinischer Psychologe 
Sexualmedizin 19, 146-147, 1997

Genau vor fünfundzwanzig Jahren publizierte die deutsche Ausgabe von "Sexualmedizin« (1/9, 438-440, 1972) einen Beitrag des Autors über diese Thematik. Es folgte eine Reihe Aufsätze bis in die achtziger Jahre, später auch in den österreichischen und schweizer Ausgaben. Seitdem hat sich viel geändert, ob zum guten, bleibt fraglich.

 Soviel man weiss, war die Sexualität in allen Kulturen und zu allen Zeiten mehr oder weniger ein Phänomen, über das die Meinungen auseinander gingen. Auch heutzutage wird die Sexualität nicht überall gleich beurteilt. Die Ansichten können sich ziemlich abrupt, manchmal sogar recht drastisch ändern. So sind einige Errungenschaften der siebziger Jahre innerhalb verhältnismässig kurzer Zeit rückgängig gemacht worden. Damit hatte damals niemand gerechnet. Was ich einst als eine Art "Prager Frühling" bezeichnet habe, ist längst vorbei. Die tolerantere Haltung der Gesellschaft gegenüber intergenerationellen sexuellen Beziehungen ist verschwunden, ja sie hat sich sogar in das Gegenteil verwandelt. Dies sollten wir uns vor Augen halten. Aus der Geschichte lässt sich manches lernen.

Wahrscheinlich sind die psychosexuellen Unterschiede zwischen Menschen (wie bei bestimmten Tieren) nicht qualitativer, sondern quantitativer Art. Der Unterschied zwischen der statistisch normalen Mehrheit und den abweichenden Minderheiten ist graduell. Möglicherweise lassen sich sämtliche sexuellen Neigungen, die von der Gesellschaft als abnorm oder deviant abgestempelt werden, bei allen Menschen nachweisen, wenn auch in ganz unterschiedlichem Masse. Was sich bei einigen kaum findet, ist bei anderen stark ausgeprägt. Hier trifft das Goethe-Wort zu: "Nichts Menschliches ist mir fremd." Die Veranlagung wird bei jedem anders sein. Freud sprach von einer Ergänzungsreihe. So gehören erotische Gefühle, die man für Jugendliche hegt, zu dem breitgefächerten Gefühlsspektrum von Erwachsenen. Der Mensch wird, auch unbewusst, von mehr Reizen aus der Umwelt beeinflusst, als man glaubt.

Emotional abgeschirmte Welt

Falls die derzeit herrschende repressive Haltung beibehalten wird, müssen wir uns fragen, was aus der heranwachsenden Generation werden soll. Die heutigen Kinder wachsen ja in einer emotional stark abgeschirmten Welt auf. Emotionalen wie auch erotischen Beziehungen zu Erwachsenen wird zu stark entgegengewirkt. Es herrscht Verunsicherung, ja Angst. Die Berichterstattung in den Medien (Presse, Rundfunk und Fernsehen) ist nicht immer objektiv und folglich irreführend. Und das kann auf die Dauer nur noch mehr Probleme verursachen. Es hat sich eine Art von kollektiver Blindheit entwickelt, die langsam, aber sicher weiter um sich greift.

Das Zeigen von erotischen Gefühlen gegenüber Kindern und Jugendlichen wird innerhalb unserer Gesellschaft sofort und ohne Pardon als kriminell abgestempelt. Vorfälle werden prompt aufgebauscht und finden übermässig starke Beachtung. Von einem differenzierten Urteil ist überhaupt keine Rede. Alles wird in einem Topf geworfen, das zärtliche Verhältnis zwischen einem Jugendlichen und einem Erwachsenen, die erwünschte Intimität und das unerwünschte Benehmen, alles fallt unter kriminelles Verhalten. Diese Kriminalisierung hat aber Konsequenzen. Von mehr Kontrollen, mehr Regeln und der Einführung neuer Gesetze verspricht man sich die Lösung. Allseits wird vehement an einem umfassenden Reinigungsritual herumgedoktert. Das Merkwürdige daran ist, dass kein Mensch nach der Meinung des Kindes oder des Jugendlichen fragt, Und das ist recht sonderbar, denn schliesslich geht es um das Wohl des Jugendlichen, des Opfers.

Möglicherweise wird auch wieder eine Zeit der Entkriminalisierung kommen, in der vieles rückgängig gemacht werden wird. Fragt sich nur, wann sich der Umschlag ankündigen wird. Vor allem in den frühen siebziger Jahren wurden viele interessante sexualwissenschaftliche Untersuchungen durchgeführt. Unter anderem wurde der Frage Nachgegangen, wie der Jugendliche den Kontakt erlebt. Die Veröffentlichungen zu diesem Thema sind heute in den Hintergrund geraten. Es ist aber die Pflicht der Sachverständigen, sich über alle verfügbaren Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung zu informieren.

Gesellschaft der Mehrheit

Im Grunde verstösst das Unterstrafestellen freiwilliger und erwünschter intergenerationeller Kontakte gegen die grundlegenden Menschenrechte. Wie schwierig dieses Problem jedoch ist, zeigen die Unterschiede in der Vorgehensweise. Der Gesetzgeber tut sich recht schwer damit. Untersucht man die einschlägigen Gesetze in den einzelnen Staaten, so stellt man die grösst mögliche Verschiedenheit fest: von Straffreiheit bis zur Todesstrafe. Das Problem erschwert sich noch dadurch, dass manche Menschen nicht richtig mit ihren Gefühlen fertig werden. Das ist zwar tragisch, aber soll man deswegen auch alte gute Beziehungen per Gesetz verbieten? 

Wir stehen hier vor einem Dilemma. Aber wir verbieten zum Beispiel heutzutage auch nicht mehr alle homosexuelle Kontakte, nur weil solche Kontakte in einigen wenigen Fällen zu Problemen fuhren. Allerdings ist hier Vorsicht geboten. Hier muss der Staat eine Aufgabe wahrnehmen, die darin besteht, eine objektive Aufklärung zu geben. Ausserdem soll er regulierend in Aktion treten, nicht mehr, aber auch nicht weniger. 

Eine artgepasste Legalisierung ist wahrscheinlich die beste Lösung, es wird dann weniger oft zu Auswüchsen kommen. Das Unterdrucksetzen einer ganzen sexuellen Minderheit kann sich nicht positiv auswirken. Wenn einer Minderheit nicht die Achtung zuteil wird, auf die sie im Grunde Anspruch hat, dann stehen ihr zwei Wege offen: Sie ergibt sich in ihr Schicksal, oder sie erhebt sich (Beispiel: die Emanzipationsbewegung der Homosexuellen). Ich benutze hier das Wort Minderheit, obwohl dies genaugenommen nicht der richtige Ausdruck ist, aber das Wort gibt doch annähernd wieder, was hier gemeint ist. Im Grunde ist jede Gesellschaft multisexuell. Es ist ganz offensichtlich, dass wir in einer repressiven Gesellschaft leben: in der der Mehrheit.

Im Jahre 1996 erreichten uns Meldungen aus dem Vatikan, in denen der Europarat aufgefordert wurde, mehr Mut an den Tag zu legen und diese Art von Kontakten energisch zu verurteilen. Beim Europarat wurde ein Antrag eingereicht, in dem von einem der widerwärtigsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit die Rede war. Hier wurde weltweit eine undifferenzierte Attacke gegen eine ganze Minderheitsgruppierung geritten. Es ist an der Zeit, dass man wieder zwischen Missbrauch und bestimmten intergenerationellen Beziehungen unterscheidet.

Wie war das noch mal vor funfundzwanzig Jahren? Damals gebrauchte man den Ausdruck Initiation für bestimmte Formen von heute »sexuellem Missbrauch«. In dem Bericht des Niederländischen Gesundheitsrates zur Senkung des Schutzalters für homosexuelle Handlungen (Speijer-Report 1969-1970) lesen wir unter anderem folgendes unter »Positive Aspekte der Initiation«: 

»Homosexuelle Kontakte können für Jugendliche mit homophiler Ausrichtung positiv sein, besonders sofern sie Gefühle von Stress und Frustration vermindern oder entgegenwirken können.

Die Kommission meint, dass tatsächlich ein Anlass dazu besteht, auch nachdrücklich auf die positiven Aspekte der homosexuellen Initiation hinzuweisen. Gerade der sich unsicher fühlende, werdende jugendliche Homosexuelle hat dringend eine mitfühlende, verständnisvolle Stütze nötig.

Durch Mangel an Kontakt und Initiationsmöglichkeit kann der Jugendliche lange Zeit in einer Art Vakuum bleiben.

Mehr Offenheit und mehr Kontaktmöglichkeiten werden nicht nur dem jugendlichen Homosexuellen bei seinen Reifungsproblemen helfen, sondern können auch für den heterosexuellen Jugendlichen einen positiven Aspekt haben. Der amerikanische Psychiater Sullivan legt in seinem Werk besonderen Nachdruck auf den Bedarf der engen Beziehungen in der präadoleszenten Phase. Er hält es für besonders wichtig, dass diese Beziehungen einen hohen Grad von Intimität erreichen.«

Soweit der offizielle Text des Niederländischen Parlamentes.

Diese Auffassung wäre heutzutage undenkbar.

 

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