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Ist es wirklich wahr?

Verbot der ‘virtuellen’ Kinderpornografie in den USA aufgehoben

KOINOS MAGAZINE #35 (2002/3)

Die erst junge Geschichte der Gesetzgebung zur Kinderpornografie weitet sich ins Maßlose aus. Das Abbilden irgendeiner Person, die dem Anschein nach jünger als achtzehn ist und Sex verlangen könnte, wurde in den USA gesetzlich verboten. Das galt auch für mit Hilfe eines Computers erzeugte Abbildungen, von einem Gericht einmal als "obszöne Ausgeburten der Technologie" bezeichnet. Aber jetzt hat der oberste Gerichtshof der USA das Gesetz für nichtig erklärt, um die Kultur und das Recht der freien Meinungsäußerung zu verteidigen. Das Urteil bedeutet eine radikale Kursänderung. In diesem Artikel eine nähere Betrachtung.

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Oberster Gerichtshof der USA, Washington

Erstmals hat der oberste Gerichtshof der USA ein Kinderpornografiegesetz aufgehoben. Das Gesetz untersagte den Besitz von Abbildungen von Personen, die dem Anschein nach jünger als achtzehn sind und ausdrücklich ein sexuelles Verhalten zeigen. Das Taliban-artige Verbot erstreckte sich auch auf Gemälde und Abbildungen von Jungerwachsenen.

In dem mit 6 gegen 3 Stimmen erlassenen Richterspruch entschied der Gerichtshof, dass das Verbot der ‘virtuellen’ Kinderpornografie nicht mit früheren Kinderpornografiegesetzen im Einklang sei, da nunmehr Formen der Meinungsäußerung verboten seien, durch die niemand geschädigt würde (‘Meinungsäußerung’ oder auf Englisch ‘speech’ steht für vielerlei Ausdrucksformen, darunter visuelle - Red.). Nach Ansicht des Gerichtshofes war das Gesetz auch nicht im Einklang mit Gesetzen gegen die Unsittlichkeit, da es Abbildungen verbot, die nicht unsittlich sind.

Die Urteilsbegründung stellte eine Verteidigung der Kultur dar: ein Novum in einem größeren Kinderpornografieprozess. Der Richter, der die Urteilsbegründung abgefasst hatte, zitierte Shakespeares Worte, dass Julia "nicht vierzehn Jahre zählt". Er führte an, dass der Theaterdichter das Verhältnis zwischen Romeo und Julia "als etwas Großartiges und Unschuldiges, aber nicht Kindliches" darstelle.

Weiter verwarf der Gerichtshof die Behauptung, dass virtuelle Kinderpornografie rechtswidriges Verhalten fördere. Das Urteil im Fall Ashcroft gegen die Koalition für das Recht der freien Meinungsäußerung lehnt viele der Argumente ab, die für ein Verbot der Kinderpornografie angeführt werden. Es schwächt die Grundlage der Unterdrückung der Sexualität von Kindern ab. Wie war dies möglich in einem Land, das für seine Prüderie bekannt ist?

Gesetze gegen die Unsittlichkeit

In westlichen Ländern stammen Verfolgungen wegen Unsittlichkeit aus dem frühen achtzehnten Jahrhundert. Mitte der siebziger Jahre des vor kurzem vergangenen Jahrhunderts stellte der oberste Gerichtshof im Fall Miller gegen Kalifornien drei Kriterien auf, die ein Werk erfüllen muss, wenn es als unsittlich gekennzeichnet werden soll:

Das vorherrschende Thema des Materials, als Ganzes betrachtet, appelliert an ein wollüstiges Interesse an Sex.

Das Material ist offen anstößig, weil es gegebene gesellschaftliche Maßstäbe in Bezug auf die Beschreibung oder Darstellung sexueller Angelegenheiten ablehnt.

Das Material hat keinen ernsthaften literarischen, künstlerischen, politischen oder wissenschaftlichen Wert.

Das sind weit gefasste Kriterien, die schwer zu erfüllen sind. Kinderpornografiegesetze unterscheiden sich von Gesetzen gegen die Unsittlichkeit dadurch, dass sie dem Staat erlauben, Abbildungen zu verbieten, ohne sie an den Miller-Kriterien zu prüfen.

1982 bestätigte der oberste Gerichtshof einstimmig die Verurteilung des Buchhändlers Paul Ferber. Dies war das erste Mal, dass der Gerichtshof ein Kinderpornografiegesetz prüfte. Ferber hatte zwei Filme verkauft, in denen Jungen masturbieren. Eine Jury hatte festgestellt, dass sie nicht obszön waren. Das Gesetz untersagte aber das Stimulieren sexuellen Verhaltens von Personen unter sechzehn Jahren.

Mit der Verurteilung von Ferber wurden die Schleusen geöffnet. In den darauf folgenden zehn Jahren – zeitgleich mit einer landesweiten Hysterie über sexuellen Missbrauch in Kindertagesstätten – verabschiedete der Kongress in jeder Legislaturperiode ein neues Kinderpornografiegesetz, das strenger war als das vorige. Die Gerichte weiteten die Interpretation der Gesetze aus und ermutigten die Gesetzgeber, noch weiter zu gehen.

Trotz alledem hat der Fall Ferber grundlegende Fragen in Bezug auf das First Amendment berührt (das First Amendment ist ein Zusatz zu der Verfassung, in dem unter anderem das Recht der freien Meinungsäußerung gewährleistet ist - Red.). Nach Ansicht von Amy Adler, Professorin für Rechtswissenschaft an der Universität New York, dreht sich die wesentlichste Frage um die Beseitigung des bis dahin unbestrittenen Unterschieds zwischen Meinungsäußerung und Handlungen.

Sie führt Thomas Emerson, einen Sachverständigen auf dem Gebiet des First Amendment, an: "Das Prinzip eines Systems der Meinungsfreiheit sollte erfordern, dass die Gesellschaft unmittelbar auf die [rechtswidrige] Handlung hin vorgeht und die Meinungsäußerung unbehelligt lässt."

"Die übliche Regel des First Amendment", schreibt Adler, "betrachtet ein Foto einer rechtswidrigen Handlung nicht als ein Verbrechen. Wenn zum Beispiel eine Zeitung ein Foto eines Bankräubers in Aktion machen lässt, wird dieses Foto auf die Titelseite gesetzt (…) statt verboten."

Mit fortschreitender Kinderpornografiegesetzgebung wurden viel mehr Menschen betroffen, als die Richter in dem Fall Ferber vorhergesehen hatten. Eltern wurden zu Freiheitsstrafen verurteilt, weil sie ihr Baby in der Badewanne fotografiert hatten, und die Polizei führte Razzien in Studios von Kunstfotografen wie Jock Sturges durch.

Anfang der neunziger Jahre geriet die Kinderpornografiegesetzgebung plötzlich landesweit ins Rampenlicht der Öffentlichkeit. Die Polizei beschlagnahmte Videos mit längeren Großaufnahmen der Schamgegend von angezogenen Kindern. Stephen Knox, der gerade sein Bakkalaureat gemacht hatte, wurde in diesem Zusammenhang wegen Besitz von Kinderpornografie verurteilt, was mit einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren bestraft wird.

Während der oberste Gerichtshof überlegte, ob er den Fall Knox zur Verhandlung zulassen würde, reichte der Generalstaatsanwalt (der beim Gerichtshof den Staat vertritt) eine Denkschrift ein, in der er anführte, dass eine ‘wollüstige Darstellung’ nach Bundesrecht erfordert, dass die Geschlechtsteile des Kindes sichtbar sind. Wenn die Aufnahmen für Kinderpornografie gehalten werden sollen, argumentierte er, müssen sie eine Straftat aufzeichnen.

Als es danach aussah, dass ein Kinderpornograf möglicherweise auf freien Fuß gesetzt werden würde, wurde die Sache zu einem landesweiten Skandal. Innerhalb weniger Tage lehnte der Kongress die Denkschrift ab und forderte Präsident Clinton strengere Gesetze. Der Generalstaatsanwalt änderte seinen Standpunkt. Die Verurteilung von Knox wurde aufrechterhalten.

Abbildungen als Einbildungen

Der Fall Knox bedeutete mehr als nur das Verbot von Abbildungen von angezogenen Kindern. Abbildungen von ‘sexuellen Kindern’ konnten vorher als Beweis für eine Straftat gelten. Nach dem Urteil im Knox-Prozess, so behauptete Anne Higonnet, Professorin für Kunst am Wellesley College, würden Abbildungen künftig als Einbildungen beurteilt. Der Staat ging dazu über zu interpretieren, was die Bedeutung von Abbildungen sei.

Higonnet argumentierte, dass "die Abbildung eines Kindes, angezogen oder nackt, mancherlei Fantasien und Wünsche hervorrufen kann." Sie nahm die von Edward Weston gemachten klassischen Aufnahmen seines Sohnes Neil unter die Lupe und zählte verschiedene Interpretationen auf, darunter "elterliche Leidenschaft (…) Weston hatte das fachmännische Können und die Gabe, eine elterliche Betrachtungsweise wiederzugeben. Mich muten die Neils wie elterliche Erotik an. Für mich – und ich weiß, dass ich nur für mich spreche - geben sie meine mütterliche Leidenschaft für den Körper meines Sohnes wieder (…) Nur bei zensierter Beobachtung (…) bewertet man nicht. Freie Beobachtung ist immer Interpretation."

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Aber des Gesetz ging weiter, als Higonnet glaubte. Ein Landgericht entwickelte ein detailliertes Verfahren zur Bestimmung von ‘Wollust’. Mit Hilfe von sechs so genannten Dost-Kriterien übernahm man die Betrachtungsweise eines Erwachsenen, der sich zu Kindern hingezogen fühlt. Aus dem elterlichen Blick wurde der pädophile Blick, und Wollust dessen Mittelpunkt. Mit Hilfe der Dost-Kriterien, so Adler, solle man nach einer Fixierung auf die Geschlechtsteile des abgebildeten Kindes suchen, nach der klaren Herausstellung der Schamgegend, nach einer Umgebung, die für gewöhnlich mit Sex assoziiert wird, nach erotischer Nachgiebigkeit im Blick des Kindes oder nach einem Hinweis auf seine "Koketterie oder seine Bereitschaft, zu einer sexuellen Handlung überzugehen".

Die Juristin Amy Adler wandte das Dost-Verfahren auf eine umstrittene Anzeige von Calvin Klein an, eine Aufnahme von zwei etwa fünfjährigen Jungen, die in ihrer Unterwäsche auf eine Bank hüpfen. Diese Werbekampagne lief nur einen einzigen Tag und wurde dann in einem Sturm der Kritik abgeblasen.

Adler: "Ich sah mir das Foto nochmals an… Die Unterhose eines der Jungen sieht füllig aus, während er aufspringt. Ich fragte mich, ob das die Konturen seiner Geschlechtsteile waren. In dem Augenblick, während ich das Foto der Unterwäsche des Fünfjährigen studierte, wurde ich mir bewusst, dass ich einer neuen Ordnung angehörte, einer durch Kinderpornografie geschaffenen und angetriebenen Welt."

Aus allem wird Kinderpornografie

Die einstige Feststellung der Gender-Theoretikerin Judith Butler, dass "die vermeintliche Unterdrückung von Sexualität zur Sexualisierung der Unterdrückung wird", klingt in den Worten von Adler durch: "Wir erweitern unseren Gesichtskreis und passen ihn dem Diktat der Kinderpornografiegesetzgebung an. Dadurch gestalten wir die Welt zu einer pornografischen Welt um… Aus allem wird Kinderpornografie nach Ansicht des Gesetzes: angezogene Kinder, kokette Kinder, Kinder in einer Umgebung, in der man Kinder antrifft. Und damit wird vielleicht alles tatsächlich pornografisch."

Als die amerikanische Kinderpornografiegesetzgebung mächtiger wurde, nahmen sich andere Länder diese zum Vorbild. Der Europarat verabschiedete ein Abkommen, das virtuelle Kinderpornografie unter Strafe stellt; es war mithilfe der FBI aufgesetzt worden. Die Niederlande, Kanada und Japan führten ähnliche Gesetze ein.

Auch ist Europa nicht von der amerikanischen Hysterie verschont geblieben. Im Oktober letzten Jahres schlossen die Behörden in Cieza in Spanien eine Fotoausstellung der Künstlerin Violeta Gómez. Es handelte sich dabei um Fotos von Mädchen, die gerade in die Pubertät eintraten, einige von ihnen waren nackt. Tags darauf führte die Guardia civil eine Razzia in der Wohnung von Gómez durch und stellte all ihre Kunstwerke sicher. Es war nichts Pornografisches darunter, aber sieben Monate nach der Razzia hatte die Staatsanwaltschaft die meisten ihrer Besitztümer noch nicht zurückgegeben und hielt sie die Ermittlungen geheim.

Gesetze gegen die Unsittlichkeit leiden schon seit langem an Unklarheit. Das erhöht die Chancen auf einen erfolgreichen Prozess, sorgt aber gleichzeitig dafür, dass sich mehr Menschen in die Netze solcher Gesetze verstricken. Der Aphorismus "Ich erkenne es, wenn ich es sehe" des obersten Richters Potter Stewart stammt aus einem Unsittlichkeitsprozess. Das neueste Kinderpornografiegesetz entsprach nicht mehr dem Grund für die Aufsetzung eines Gesetzes auf diesem Gebiet: ein kristallklarer Maßstab, der genau besagt, welche Art von Material verboten ist. Es war wieder zu seinem Ursprung zurückgekehrt und zu einem Gesetz gegen die Unsittlichkeit geworden. Juristisch versagte es. Es war an der Zeit, das Gesetz zu attackieren.

‘Obszöne Ausgeburten’

In Ashcroft gegen die Koalition für das Recht der freien Meinungsäußerung legte der Staat gegen das Urteil eines erstinstanzlichen Berufungsgerichts Berufung ein. Dieses hatte entschieden, dass das Gesetz zur erhütung von Kinderpornografie von 1966 (Child Pornography Prevention Act: CPPA) zu unklar und verfassungswidrig war

"Wenn wir anders darüber denken", so die Richter dieses Gerichts, "ermöglichen wir die Kriminalisierung obszöner Ausgeburten einer kreativen Technologie, auch wenn dadurch überhaupt kein Mensch benachteiligt wird."

Zu den Gruppierungen, die beim obersten Gerichtshof Dokumente gegen das CPPA einreichten, gehörten die Sexindustrie, akademische Organisationen wie das Institute for the Advanced Study of Human Sexuality (Institut für fortgeschrittenes Studium der Humansexualität), die Koalition Feminists for Free Expression (Feministen für freie Ausdrucksmöglichkeiten) und Verfechter des Rechts der freien Meinungsäußerung.

Bei einer Anhörung im vorigen Jahr ließen die obersten Richter erkennen, dass sie sich in Sachen virtueller Pornografie unbehaglich fühlten. Zwei von ihnen erinnerten Paul Clement, einen Staatsanwalt, daran, dass es sich im Fall Ferber um Schaden handelte, der realen Kindern zugefügt worden war.

Clement entgegnete, dass das Gesetz "reale Kinder vor realem Missbrauch" schütze, weil durch mithilfe des Computers hergestellte Abbildungen Kinder zum Posieren verführt würden. Er argumentierte, dass Kinderpornografie "als ein Instrument bei der Begehung der Straftat des Kindesmissbrauchs" zu betrachten sei, "genauso wie das Werkzeug eines Einbrechers ein Instrument bei der Begehung der Straftat des Einbruchs ist". Für Kriminalbeamte könnte es unter Umständen unmöglich werden, zwischen virtueller und realer Pornografie zu unterscheiden, sagte er, wenn nicht jede Form der Kinderpornografie verboten würde.

H. Louis Sirkin, der die Koalition für das Recht der freien Meinungsäußerung vertrat, hatte gerade erst mit seinem Plädoyer angefangen, als er unterbrochen wurde: "Erstens würden sämtliche visuellen Äußerungen über die Sexualität von Teenagern ein für allemal verboten sein, ungeachtet ihres wissenschaftlichen, künstlerischen oder erzieherischen Werts. Zweitens würden unzählige visuelle Darstellungen…"

In dem Augenblick fiel Antonin Scalia, der konservativste oberste Richter, ihm ins Wort:

"Entschuldigen Sie bitte, aber welche denn? Welche denn? Welche großen Kunstwerke würden uns abgenommen werden, wenn wir die Kopulation Minderjähriger nicht zeigen dürften…?" "Lolita", antwortete Sirkin. Sarkastisch rief Scalia aus: "Das große Kunstwerk par excellence der abendländischen Welt! Nichts für ungut, aber wir reden hier nicht über, hm, die Mona Lisa oder die Venus von Milo oder ein anderes Werk, das schon etwas länger als dreißig Jahre hält." Richter John Paul Stevens: "Und wie stehts mit Romeo und Julia?" Scalia, unter Gelächter aus dem Gerichtssaal: "Na, dann haben Sie das Stück wohl in einer anderen Aufführung gesehen als ich."

Die Frage von Stevens deutete an, wo der Gerichtshof der Ausdehnung des Gesetzes schließlich Einhalt gebot. In seiner Erläuterung führte Richter Anthony Kennedy Shakespeare an und sagte, dass das Verbot "die visuelle Darstellung einer Idee untersagt – die Idee, dass Teenager sexuelle Aktivitäten entfalten – die in der heutigen Gesellschaft ein Faktum und schon seit Jahrhunderten in der Kunst und der Literatur ein Thema ist. Einige berühmte Filme, gedreht ohne Beteiligung von Kindern als Schauspielern, befassen sich mit Themen, die in den großen Geltungsbereich der Verbotsbestimmungen des Gesetzes fallen."

Er gab mehrere Beispiele, darunter der mit Academy Awards ausgezeichnete Film American Beauty, der, wie Kennedy bemerkte, eine Szene enthält, in der "eine der Personen einen Teenagerjungen zu sehen glaubt, der einen älteren Mann sexuell bedient."

Kennedy führte aus: "Kunst und Literatur bringen das wesentliche Interesse zum Ausdruck, das wir alle erfahrungsgemäß in den Jahren der Vernunft verspüren, in denen Wunden so schmerzhaft, Enttäuschung so bitter und eine falsche Wahl so tragisch sein können, in denen aber moralische Taten und die Verwirklichung unseres gesamten Potenzials noch möglich sind."

Vor diesem Hintergrund erklärte Kennedy anschließend jedes von der Staatsanwaltschaft vorgebrachte Argument für nichtig.

Das Recht zu denken

In seiner Erläuterung bemerkte er, dass das CPPA "viel mehr als eine Ergänzung zum bestehenden Bundesverbot der Unsittlichkeit ist". Das Gesetz erfülle nicht die Miller-Kriterien. Und wenn dies der Fall wäre, dann noch wären Fotos von dem Anschein nach Siebzehnjährigen, die ausdrücklich ein sexuelles Verhalten zeigen, nicht unsittlich. Darüber hinaus gelte für die Abbildungen, die in den Geltungsbereich des Gesetzes fallen, dass "an deren Herstellung überhaupt keine Kinder beteiligt sind, geschweige denn dadurch geschädigt werden (…) Das CPPA untersagt Mittel der Meinungsäußerung, bei denen keine Straftat registriert wird und bei deren Herstellung niemand zu Schaden kommt."

Kennedy sparte seine eindrucksvollsten Worte für die Behauptung auf, dass virtuelle Kinderpornografie dazu benutzt werden könne, Kinder zu verführen. "Der einfache Umstand der Meinungsäußerung zur Förderung rechtswidriger Handlungen ist seiner Ansicht nach kein ausreichender Grund, dagegen ein Verbot zu erlassen. Der Staat 'hat kein verfassungsmäßiges Recht, ein Gesetz damit zu begründen, dass es wünschenswert ist, die privaten Gedanken eines Individuums zu bestimmen'. Die durch das First Amendment verbürgten Freiheiten seien stark gefährdet, wenn der Staat Gedankengut zu beeinflussen oder seine Gesetze aufgrund eines solchen unzulässigen Zwecks zu rechtfertigen versuche. Das Recht zu denken sei der Beginn der Freiheit, und das Recht der freien Meinungsäußerung müsse vor Eingriffen durch den Staat geschützt werden, denn mit der Meinungsäußerung beginne das Denken", so der Richter.

Kennedy argumentierte, dass der Staat die freie Meinungsäußerung nicht verbieten darf, indem als Rechtsgrundlage dafür die Behauptung angeführt wird, freie Meinungsäußerung erhöhe das Risiko, dass dadurch jemand gegen das Gesetz verstoßen werde: "Die Staatsanwaltschaft hat lediglich einen vagen Zusammenhang zwischen der freien Meinungsäußerung, die Gedanken oder Impulse fördern kann, und irgendwelchem sich daraus ergebenden Kindesmissbrauch nachgewiesen."

Auch prangerte er die Behauptung an, dass virtuelle Abbildungen die Strafverfolgung von Pornografie erschwerten, für die reale Kinder benutzt wurden.

"Nach diesem Argument ist die zwangsläufige Lösung das Verbot beider Arten von Abbildungen. Im Grunde besagt dieses Argument, dass die durch das First Amendment geschützten Formen der Meinungsäußerung verboten werden dürfen, damit ungeschützte Formen verboten werden können. Diese Analyse stellt das First Amendment auf den Kopf… Geschützte Formen der Meinungsäußerung verlieren ihren Schutz nicht schlichtweg dadurch, dass sie ungeschützte Formen ähneln. Die Verfassung verlangt das Gegenteil."

Die Gedankenführung im Fall Ashcroft greift auf eine abweichende Ansicht von Richter Oliver Wendell Holmes in einem berühmten Prozess um das Recht der freien Meinungsäußerung zurück. Während des Ersten Weltkriegs trat Learned Hand, ein Bundesrichter, bei Holmes dafür ein, dass lediglich Kritik am Staat kein hinreichender Grund sei, Menschen einzusperren. Hand verwarf die – damals wie heute allgemein gültige – Idee, dass das Recht der freien Meinungsäußerung in Kriegszeiten hinter höheren Interessen zurückstehen müsse. Das Recht der freien Meinungsäußerung, so Hand, sei in einer Demokratie ein höheres Interesse. Eine Demokratie erfordere eine ungehinderte Meinungsäußerung, damit ihre Bürger entscheiden könnten, was richtig und damit gut sei.

Richter Holmes schloss sich dieser Ansicht an: "Das höchste Ziel, das es anzustreben gilt, lässt sich besser durch einen Freihandel der Ideen erreichen. Die beste Wahrheitsprüfung finden wir in der Kraft eines Gedankens, sich durch den Wetteifer mit anderen Gedanken durchzusetzen.

Die Wahrheit ist die einzige Grundlage, auf der die Wünsche [der Bürger] ohne Gefahr realisiert werden können. Nur im äußersten Fall, wenn es eine unmittelbare Gefahr verursachen würde, die Korrektur falscher Ideen der Zeit zu überlassen, sollten wir eine Ausnahme von dem vorherrschenden Gebot, nach dem ‚der Kongress kein Gesetz zur Einschränkung des Rechts der freien Meinungsäußerung erlassen wird‘, zulassen." Die Erläuterung von Holmes in dem Prozess Abrams gegen die Vereinigten Staaten wurde zu der Grundlage, auf der die Rechtsprechung über das First Amendment aufgebaut wurde.

Pädophile Ethnizität

Da unter Berufung auf das Kinderpornografiegesetz nunmehr alles für Kinderpornografie gehalten wurde, war ein eindeutiges Urteil im Fall Ashcroft unvermeidlich. Übrigens wurde lediglich das Verbot der virtuellen Abbildungen für nichtig erklärt. Der Besitz von Pornografie, für die Bilder von realen Kindern benutzt wurden, stellt nach wie vor eine Straftat dar.

Der britische Schriftsteller und gestandene Teilnehmer an Aktionen Tom O’Carroll behauptet, dies diene der Kreierung von Beweisen für "eine pädophile Identität, wenn nicht gar eine pädophile Ethnizität, die es ermöglicht, dass meistens vollkommen unschuldige Menschen erfasst und ihr Leben lang mit Misstrauen behandelt, im Auge behalten und Zwang ausgesetzt werden". Denn bereits vor dem Verbot der virtuellen Pornografie gewann der Staat 97 Prozent der von ihm wegen Kinderpornografie angestrengten Prozesse.

Nur wenige Tage nach der Urteilsverkündung im Ashcroft-Prozess beriefen verärgerte Konservative, unter Anführung des amerikanischen Justizministers John Ashcroft, eine Pressekonferenz ein, auf der sie substituierende Gesetzgebung ankündigten. Ashcroft ist ein Politiker der Rechten, der im Januar dieses Jahres verhöhnt wurde, als er $ 8000 dafür aufwendete, zwei Statuen mit nackten Brüsten, Geist der Gerechtigkeit und Majestät des Gesetzes, die im Großen Saal des Justizministeriums aufgestellt sind, zu bedecken.

In der neuen Gesetzesvorlage werden Abbildungen als ‘unsittlich’ bezeichnet, wenn sie "von Abbildungen eines präpubertären Kindes, das in aller Deutlichkeit sexuelles Verhalten zeigt, so gut wie nicht zu unterscheiden sind", darunter "das simulierte wollüstige Zeigen der Geschlechtsteile oder der Schamgegend". Larry Sutter, Generalanwalt des Herausgebers der Zeitschrift Penthouse, ist der Ansicht, dass dieser Gesetzentwurf einer Prüfung an der Verfassung nicht standhalten wird, weil "alles Material, an dessen Herstellung kein reales Kind beteiligt war, die Miller-Kriterien erfüllen muss".

Der Vorschlag von Ashcroft ist ein zynischer Versuch, der möglicherweise von Richter Kennedy vorausgesehen wurde. In seiner Erläuterung weist der Richter darauf hin, dass das Urteil in dem Prozess, in dem das Verbot des Besitzes bestätigt wurde, "von dem Interesse der Beteiligten [die an der Herstellung der Pornografie beteiligten Minderjährigen] ausging. In dem Urteil wird nicht suggeriert, dass neben diesem Interesse weitere vom Staat vorgebrachte Interessen begründet wären."

Mit anderen Worten: Wenn das abgebildete Kind, kein reales Kind ist, würde der Gerichtshof jedes Kinderpornografiegesetz, das eine solche Abbildung verbieten würde, für nichtig erklären, ungeachtet des Alters des abgebildeten Kindes. Die Bemühungen von Ashcroft dürften daher in einigen Jahren im Sande verlaufen. Das wird in der Öffentlichkeit hohe Wellen schlagen, und das kann der amerikanische Präsident wiederum für sich nutzen, wenn die Ernennung eines neuen obersten Richters ansteht..

Der oberste Gerichtshof hat seine eigene Statue einer barbusigen Dame. Sie hält einen Spiegel in der einen Hand und eine Rose in der anderen. Es ist unwahrscheinlich, dass sie bedeckt werden wird. Ihr Name ist Wahrheit.

Brunnen: siehe

Appendix

Siehe auch Koinos #34: Oberster Gerichtshof der USA schränkt ‘Raubtiergesetze’ ein

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