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 99-055 Doc

Verjährungsregelung bei Kindsmissbrauch: Fehlurteile programmiert

aus „Plädoyer" 5/98 Seiten 28-29
Martin Killias, Guido Jenny

Kurz nach den Sommerferien hat der Bundesrat einen Entwurf zur abermaligen Revision des Strafgesetzbuches bis zum 30. November in Vernehmlassung gegeben. Danach soll die Verjährung bei sexuellem Kindsmissbrauch ruhen, bis das Opfer das 18. Altersjahr zurückgelegt hat. Erst vor einem Jahr ist die Verjährungsfrist bei Art. 187 StGB von 5 auf 10 Jahre erhöht worden, und mit der neuen Verjährungsregelung im Zuge der Revision des Allgemeinen Teils ist eine weitere Verlängerung auf 15 Jahre abzusehen.

Ziel des Entwurfs ist der bessere Schutz der Kinder, was ihm breite Unterstützung sichert. Dabei wird leicht vergessen, wer am Ende welche Folgen zu tragen haben wird. Es werden - soviel sei schon hier verraten - durchaus nicht nur pädophile Täter sein. So hätte die neue Regelung kaum Folgen für Serientäter, da nach der Gerichtspraxis die Verjährung auch weit zurückliegender Taten erst mit der zuletzt begangenen (analogen) Tat zu laufen beginnt 1. Betroffen wären nur Täter, die sich seit Jahrzehnten keine analogen Verstösse mehr haben zuschulden kommen lassen und bei denen man sich fragen kann, welchen Sinn hier Strafe eigentlich noch haben könnte.

Einen absehbaren Anwendungsfall bilden Anschuldigungen aufgrund „wiederentdeckter" Gedächtnisreste. Der im Bericht beschworene „Paradigmawechsel" beruht vorwiegend auf der Vorstellung amerikanischer Therapeuten, dass Jahrzehnte zurückliegender Kindsmissbrauch (auch im Säuglingsalter) unter anderem via Hypnose wiederentdeckt und zur Grundlage einer Anzeige gemacht werden könne. Wir wollen uns zu dieser Recovery-Theorie und ihren Anwendungen nicht näher äussern 2 - fest steht, dass sie keine Tatsachenfeststellungen erlauben, die in einem rechtsstaatlichen Verfahren einem Urteil zugrunde gelegt werden könnten 3. Leider schweigt sich der Bericht über durch Hypnose und andere zurückerinnerte Missbrauchserfahrungen aus der Kleinkindzeit aus, lässt aber zwischen den Zeilen durchblicken, dass man genau diese Konstellation im Auge hat.

In den USA - wo es eine Verjährung im common law grundsätzlich nicht gibt - haben Fälle dieser Art oft Schlagzeilen gemacht. In der Schweiz mit ihrem Legalitätsprinzip sind noch weittragendere Folgen zu erwarten. Denn in den USA wirken das Anklagemonopol der Staatsanwälte und ihre Karriere-Interessen als Bremse gegen unsichere Anklagen. Geschäftsanwälten nicht unähnlich, pflegen Staatsanwälte die Prozessaussichten sorgfältig abzuwägen, da ein Freispruch ihre Karriere nachhaltig beeinträchtigen kann. In der Schweiz hingegen riskieren Anklagevertreter kaum viel, wenn der Angeklagte freigesprochen wird, wohl aber, wenn sie ein Verfahren nicht einleiten oder einstellen, da diesfalls Artikel 305 StGB (Begünstigung) als Damoklesschwert über ihnen schwebt. Der Weg des geringsten Widerstandes wird sie daher im Zweifel zur Anklage veranlassen, auch wenn als Beweis nicht viel mehr als die wiedererlangte Erinnerung und Gutachten von Gedächtnistherapeuten vorliegen. Gewiss mögen Gerichte in solchen Fällen ungern verurteilen, doch können sie kaum systematisch freisprechen, ohne unangenehm aufzufallen. Auch hilft der Freispruch wenig, wenn - wie zumeist - schon durch das blosse Verfahren fast alles Porzellan zerschlagen, d.h. der Betroffene aufs nachhaltigste getroffen worden ist. 4

Leider ist im Zusammenhang mit der Verjährung nur immer von den Beweisschwierigkeiten die Rede, die sich für die Anklage ergeben. In Wirklichkeit wird durch langen Zeitablauf aber nichts anderes als die Wahrheitsfindung erschwert - für die Anklage, für die Verteidigung, die kaum mehr Entlastungsbeweise vorzulegen vermag 3, und für das Gericht, das sich auf keine handfesten Anhaltspunkte stützen kann und daher allen Emotionen inklusive dem Druck der Öffentlichkeit ausgesetzt ist. Fehlurteile (nach beiden Seiten) sind so geradezu programmiert. Im Bericht zum Vorentwurf wird dazu nur sinngemäss gesagt, es sei dies im Interesse einer unnachsichtigen Repression des Kindsmissbrauchs hinzunehmen. Das ist nicht anderes als die Umkehrung des Satzes, es sei besser, zehn Schuldige freizusprechen, als einen Unschuldigen zu verurteilen. Eine Häufung spektakulärer Fehlurteile wäre aber der sicherste Weg, um das Anliegen des Kinderschutzes zu diskreditieren.

Ob dem Opfer durch strafprozessuale „Aufarbeitung" des Erlebten geholfen werden kann, bleibe dahingestellt. Sicher aber bedeutet es eine massive Belastung, wenn das Geschehene in Zweifel gezogen oder der Täter gar (zu Unrecht) freigesprochen wird. Gerade dies ist aber bei lange zurückliegenden Sachverhalten oft unvermeidlich. Im Interesse der Opfer ist es wichtig, dass solche Verfahren innert sinnvoller Frist ablaufen. Von den Kindern eingeweihte Erwachsene 6 sollten sich nicht sagen können, das Kind selber könne ja später immer noch Anzeige erstatten. Im übrigen bringt die Zerstörung ganzer Familien und Beziehungsnetze, wie das in den USA bei Prozessen um recovered memories zu beobachten ist, auch für das Opfer schwere Belastungen. 7

Die vorgeschlagene Regelung beruht auf der Überlegung, dass es einem Opfer schwerfällt, einen im gemeinsamen Haushalt lebenden erwachsenen Täter anzuzeigen. Daher soll die Verjährung ruhen, solange das Opfer noch minderjährig ist. Im Auge hat der Gesetzgeber somit Fälle, in denen der Täter der Vater oder jedenfalls eine Autoritätsperson ist, mit der das Kind aufwächst. Bei Untersuchungen mit sehr grossen Stichproben aus der Gesamtbevölkerung - solche braucht es, um über die Häufigkeit verschiedener Täter-Tat-Opfer-Konstellationen schlüssige Aussagen zu machen 8 - zeigt sich indessen, dass eine kleine Minderheit von ein oder zwei Prozent (und oft noch weniger) aller Opfer von Vätern (im weiteren Sinn) missbraucht worden ist. Wesentlich häufiger sind erwachsene Täter, die das Kind von Freizeitaktivitäten, der Schule oder aus der Nachbarschaft kennt, und sodann in erheblichem Ausmass andere Jugendliche (oder Kinder).

Nach einer Untersuchung an Schülern des 9. Schuljahres im Kanton Genf 9 und einer noch laufenden gesamtschweizerischen Untersuchung sind Kinder und Jugendliche die häufigste Tätergruppe. Nach heutigem Jugendstrafrecht und der nun vorgeschlagenen Regelung könnte beispielsweise eine mit 15 begangene Tat noch Jahrzehnte später zu einer Verurteilung führen - je nach Alter des Opfers allenfalls noch nach dem 40. Altersjahr. Dabei ist uns aus der neuesten Praxis bekannt, dass bereits die vor einem Jahr in Kraft getretene Verlängerung der Verjährungsfrist von 5 auf 10 Jahre (bei Art. 187 StGB) zur Folge hatte, dass gut integrierte Personen von über 25 noch wegen Taten im Alter von 15 Jahren verurteilt und - wegen langer Untersuchungshaft mit Verhaftung vom Arbeitsplatz weg - in ihrer sozialen Existenz vernichtet worden sind. Umgekehrt betrifft die 1997 beschlossene längere Verjährungsfrist erwachsene Täter, die viel jüngere Opfer missbrauchen, nur selten, da ihr Verhalten nach der Gerichtspraxis zugleich oft Vergewaltigung (oder Art. 198/191) in Idealkonkurrenz mit Art. 187 strafbar ist 10, so dass die Verjährung ohnehin erst nach 10 Jahren eintrat. Dies nur zur Illustration, wie weit sich die Auswirkungen von Gesetzen von den Vorstellungen des Gesetzgebers entfernen können: la réalité dépasse la fiction.

Wir möchten sexuellen Missbrauch durch minderjährige Täter nicht bagatellisieren, sowenig wie die Gewalt unter Kindern im allgemeinen. Aber es muss doch zu denken geben, wenn der Gesetzgeber im Zeichen des Kampfes gegen Pädophilie wiederholt Gesetze erlässt, die bei weiten nicht nur die von ihm anvisierten Fälle treffen, sondern selbst noch Täter im Kindes- und Jugendalter.

Für Politiker mag die Versuchung gross sein, heute unter grossem Medienapplaus ein derartiges Gesetz zu beschliessen. Sie mögen sich sagen, dass die negativen Nebenwirkungen wegen der langen Übergangsfrist frühestens in 10 bis 20 Jahren sichtbar werden können - wenn sie selber nicht mehr im Amt sein werden. Après moi le déluge war indessen nie eine sinnvolle Kriminalpolitik.

Martin Killias, Guido Jenny

 

Dazu Jenny, Kommentar zum schweiz. Strafrecht, 4. Bd.: Delikte gegen die sexuelle Integrität und die Familie, 1997, N. 50 zu Art. 187 N. 51.

Eingehend zu dieser Theorie und ihren problematischen Grundlagen und Folgen vgl. Cécile Ernst, Trügerische Erinnerung, NZZ Nr. 90 vom 19./20.8.97; zum Stand der Diskussion in den USA vgl. vor allem D. Stephen Lindsay/John Brière, The Controversy Regarding Recovered Memories of Childhood Sexual Abuse: Pitfalls, Bridges, and Future Directions, J. of Interpersonnal Violence 12/5 (1997), 631-647. Daraus ergibt sich in der Quintessenz immerhin so viel, dass von einem Paradigmawechsel in der Wissenschaft nicht die Rede sein kann.

So schon G. Arzt, Zur Verjährung des sexuellen Missbrauchs von Kindern, FS Schnyder, Fribourg 1995, 13-30, 26ff.

Zu den Auswirkungen auf das Familien- und Scheidungsrecht s. Arzt (Anm. 3), 28.

Dazu Killias, Précis de droit pénal général, Bern 1998, N. 1636.

Nach Halpérin et al., A contre-coeur, à contre-corps. Regards pluriels sur les abus sexuels d’enfants, Genf: Médecine et Hygiène 1997, S. 135, haben 58% der Opfer sich anderen Personen anvertraut.

Dazu Ernst (Anm. 2)

Zusammenfassend dazu Killias, „Alarmierende Viktimisierungsraten": Techniken der Übertreibung und ihre Folgen, FS Usteri, Bern 1997, 181-193.

Nach Halpérin et al. /zit. Anm. 6), S. 81, war in 52% der schwereren Fälle der Täter weniger als 5 Jahre älter als das Opfer.

Dazu Jenny (Anm. 1), Art. 189 N. 28 i.V. mit Art. 187 N. 44, Art. 191 N. 3ff., 13ff., Art. 187 N. 50.

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