[Start]     [Inhalt]    [New]     [Die Deutsche Seiten]     [RBT files overview]

Streit um sexuellen Missbrauch

Einige Anmerkungen zum Zürcher Tagesanzeiger vom 16.2.2002 *

Peter Schulte-Stracke 

* Jochen Paulus:
Streit um sexuellen Missbrauch : Forscher sind sich uneinig, wie gefährlich sexueller Missbrauch für betroffene Kinder sein kann.
Tagesanzeiger (Zürich), 16 Januar 2002.

Contents

Abstract 
Einleitung 
Einige Fehler 
Die Kritik von DALLAM et al. 
Ein Leitbild 
Externe Validität 
Interne Validität 
Genauigkeit 
Objektivität 
Begrifflichkeit 
Die Kritik von ONDERSMA et al. 
Gründe der Kampagne 
Mißbrauchsdefinition 
Zum Schluß 

Hinweis 
Fußnoten  
Literatur  

Abstract

Die Meta-Analyse des »sexuellen Mißbrauchs« durch Bruce RIND, Philip TROMOVITCH und - last but not least - Robert BAUSERMAN [12] hat Furore gemacht. Nunmehr hat der Zürcher Tagesanzeiger die Veröffentlichung zweier Kritiken [6], [1] und der Replik der Autoren [9] im Novemberheft der Zeitschrift Psychological Bulletin zum Anlaß eines Beitrages von Jochen Paulus [7] genommen. Einige Punkte darin sind zu ergänzen oder zu korrigieren.

Einleitung

Das Novemberheft des Psychological Bulletin ist gerade in die europäischen Bibliotheken gelangt, da widmet sich der Zürcher Tagesanzeiger [7] schon der in ihm fortgeführten Debatte um die »vermuteten Konsequenzen des sexuellen Kindesmißbrauchs«, so der Titel der Arbeit [12] von 1998. 

Dies ist um so lobens- und beachtenswerter, als es sich hier um anstrengende Lektüre handelt, die nur auf wenige einladend wirkt. Mir sind freilich einige -- unterschiedlich zu gewichtende -- faktische Fehler aufgefallen; daneben, bedeutsamer noch, allerdings eine gewisse Enge
der Perspektive. 

Denn mit dem (sehr angesehenen) Ort dieser Veröffentlichungen geht eine Beschränkung auf die konzentrierte Diskussion sehr technischer Fragen einher. Unglücklicherweise hat der Autor des Tagesanzeiger-Beitrags die anderen Äußerungen der Dres. RIND, TROMOVITCH und BAUSERMAN wohl nicht gekannt, in denen sie auf die Kritiker geantwortet haben. Anderenorts, wo es eher möglich war, haben sie sich freimütig zum methodischen und politischen Kontext ihrer Forschungen geäußert [8],[13], [10]. Daneben sind auch andere Beiträge in Heft 4(2) von Sexuality & Culture lezenswert  [5], [4] -- Anhand dieser Quellen werde ich im folgenden einige Anmerkungen zum Tagesanzeiger-Artikel machen. Zunächst die faktischen Fehler:

Einige Fehler

Wohl spricht Martin SELIGMAN einmal von dem »besonderem Zerstörer psychischer Gesundheit«, den der Mißbrauch darstellen solle, aber nur um fortzufahren, da er daran nicht glaubt (vgl. [5]), vielmehr die einschlägige Forschung für besonders stümperhaft durchgeführt hält. 

Dann wird behauptet, eher könnten die Kritiker das folgende Ergebnis von RIND et al. erschüttern: 

»Extreme Erfahrungen wie Geschlechtsverkehr sind laut Rind nicht gefährlicher als leichtere, etwa, wenn sich ein Exhibitionist vor dem Kind entblößt.« 

Ich kann nicht nachvollziehen, wie der Artikel [7] zu diesem Schluß kommt. Mit einer »Reihe von Einzelstudien« zu argumentieren, mutet im Kontext einer Meta-Analyse [*1] befremdlich an, wurde sie doch dazu entwickelt, aus solchen Einzelstudien und ihren häufig nur zufälligen und widersprüchlichen Ergebnissen gesichertere Schlüsse zu ziehen.  Schwerer noch wiegt, daß RIND et al. diesen Einwand ausführlich und überzeugend widerlegen [9, S.742-744], bei dem es sich im Übrigen auch für David FINKELHOR - wie übrigens schon S. FREUD - nur um ein »verfestigtes Vorurteil« handelt.

Aber nehmen wie doch einmal an, es wäre so, dann würden wir zum einen bei Studien, die eine engere Definition des Mißbrauchs verwenden, deutlichere Ergebnisse finden, und das fiele als Inhomogenität auf, was in dieser Meta-Analyse nicht der Fall war [9, S.744], zum anderen wäre die Hypothese (infra) damit bestätigt, wenngleich gegenüber einer engeren Mißbrauchsdefinition abgeschwächt. Sie ist aber widerlegt. Tatsächlich ist es auch wenig plausibel, daß Beziehungen, die zu intensiveren sexuellen Episoden geführt haben, vom Tagesanzeiger zu »extremen Erfahrungen« umgewertet - was sagt uns das? -, zugleich die schädlichsten gewesen sein sollten; die sündigsten und verbotensten, ja; die schädlichsten, nein. Das alles gilt selbstverständlich nur für nicht-aggressive Episoden. 

Der größte Fehler des Artikels liegt aber sozusagen an der Oberfläche, wo er wie selbstverständlich übersehen wird: wenn etwa Prof. SPIEGEL davon spricht, »[w]ie sollen Kinder Sex mit einem Erwachsenen zustimmen können?«, dann meint er damit »Kinder« im Sinne der entsprechenden amerikanischen Gesetze, also Kinder und Jugendliche im Sinne unseres Sprachgebrauches.

Ja, die Kritiker bestreiten auch Siebzehnjährigen die Fähigkeit, über ihren eigenen Körper zu verfügen und ihr Einverständnis zu sexuellen Kontakten zu geben, wenn ein etwas älterer involviert ist, und sie bestreiten auch vehement der Wissenschaft im Sinne von RIND et al. das Recht, diese Norm zu diskutieren. Das ist ein wichtiger Punkt, ich werde noch darauf zurückkommen.

Die Kritik von DALLAM et al.

Gleich zu Anfang des Artikels [7] heißt es, die Ergebnisse der Meta-Analysen (es sind zwei) seien »überraschend« gewesen. Das ist falsch, überraschend war nur die Reaktion [5], vielleicht noch die Deutlichkeit, mit der die Grundlagen des Mißbrauchskonzeptes in Frage gestellt wurden.

Die Verfasser dieser Kritik [1] haben schon in der Kampagne 1999 als Büchsenspanner der Gegner von RIND, TROMOVITCH und BAUSERMAN gedient, wovon sie heute schweigen. Verglichen mit ihren damaligen Einlassungen, die von RIND et al. in mehreren Veröffentlichungen zurückgewiesen wurden  [8], [13], [10], sind sie nurmehr kleinlaut zu nennen. Sie sind ihrer damaligen Taktik freilich treu geblieben und suchen sich einzelne methodische Kritikpunkte heraus, deren Kaliber von »darüber kann man reden« bis »darüber kann man nur noch den Kopf schütteln« reicht, die aber nie einem anderen Zweck dienen. als dazu, Verwirrung zu stiften, denn ihr Interesse war und ist nicht auf die Wahrheit und »Mehrung der Kenntnisse« [10] gerichtet. Diese Punkte in einzelnen zu behandeln, überlasse ich gerne Berufeneren [9]. Stattdessen gehe ich kurz auf den Kontext ein.

Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: es ist natürlich völlig legitim und auch notwendig, alle Schritte einer Untersuchung zu prüfen und alle Entscheidungen des Untersuchers kritisch zu würdigen. Darum haben die Verfasser der Meta-Analyse ja auch ihre Untersuchungsschritte genau dokumentiert; man darf ihre Untersuchung [12] darin wohl vorbildlich nennen. 

Nur, wie soll man Einwendungen ernst nehmen, die im Ergebnis die dritte Stelle hinter dem Komma betreffen, von denen man aber so tut, als entwerteten sie gleich alle Ergebnisse von [12]

Oder solche, die nach dem doch nun hinlänglich bekannten Schema ablaufen: wenn die Symptome, die in den Bezugsuntersuchungen erfaßt wurden, keine Wirkung des Mißbrauchs zeigen, na dann muß eben ein anderes Symptom, das halt noch niemand untersucht hat, die Wirkung zeigen. [*2]  

Läßt sich bei College-Studenten nichts feststellen, dann müssen halt die Schulkinder 'ran 

(hilft aber auch nicht [9, S. 738],  oder sollen wir mit [2, S. 27] annehmen, daß die mißbrauchten Kinder vielleicht alle am Tage der Untersuchung krank waren und nicht zur Schule gingen?)

 -- Was eigentlich sollte einen noch daran hindern, sich und anderen einzureden, die »wahren Opfer« seien wahlweise von Dutroux verbuddelt, von UFOs entführt, oder noch nicht über ihr Unglück aufgeklärt, und deshalb a-symptomatisch? - Wir sehen hier eine völlig a-theoretische und unreflektierte Denkweise am Werk.

Ein Leitbild

RIND et al. heben sich bei ihrer Arbeit von methodische Kriterien leiten lassen (vgl. [8] und öfter). Es ist wichtig, dies im Auge zu behalten: anders als ihre Kritiker haben sie eine Vorstellung von dem, was Wissenschaft ist und was sie tun und erreichen wollen.

Sie stellten folgende Hypothese auf, die verbreitete Auffassungen wiedergibt:

(legal-definierter) sexueller Mißbrauch hat schwere dauerhafte negative Folgen für jeden Betroffenen

Diese Hypothese (für die, bei Lichte besehen, nie besonders viel sprach) ist nunmehr im POPPERschen Sinne widerlegt. Wie nicht anders zu erwarten, behaupten ihre Kritiker nun, niemals hätte irgend jemand je so etwas behauptet, daran ist wahr nur, daß es immer - in der Fachöffentlichkeit - vorsichtigere und differenziertere Auffassungen gab; was mit jedem geschah, der solche Differenzierungen in der Öffentlichkeit zu äußern wagte, ist ja, u.a. durch den vorliegenden Fall, wohlbekannt.

Externe Validität

Das erste Kriterium heißt »externe Validität«, Verallgemeinerungsfähigkeit: Sie ist dann gegeben, wenn wir die Forschungen auch an denen vornehmen, über die wir berichten wollen. Sie ist gefährdet durch Selektionsbias, d.h. Stichproben, die nicht streng zufällig oder aus der falschen Grundgesamtheit gewonnen wurden.

In der Vergangenheit hat die Verwendung von Stichproben, die aus den Insassen von Heilanstalten oder Gefängnissen oder ähnlich hoch-selegierten Grundgesamtheiten gewonnen wurden, für z.T. unglaublich krasse Fehler gesorgt. Deshalb folgen sie Alfred KINSEY - auch eine bête noire ihrer Kritiker - der zu seinen Untersuchungen - bahnbrechend - die normale Bevölkerung heranzog. Sie gehen noch weiter und reklamieren nach dem Vorbilde von FORD und BEACH die Notwendigkeit einer kulturvergleichenden und die Primatenforschung einbeziehenden Perspektive. [8, S. 223] 

Dementsprechend haben sie eine Meta-Analyse (eine mit statistischen Methoden arbeitende Zusammenfassung) von sieben national-repräsentativen Studien vorgenommen [11], die die Hypothese bereits widerlegte. 

Für ihre Zwecke waren diese Untersuchungen aber nicht aussagekräftig genug. Bei Studien an College-Studenten wurden wesentlich mehr Fragen gestellt, und damit war die Möglichkeit ausgiebigerer Analysen gegeben. Es war diese Untersuchung [12], die dann Gegenstand einer erbitterten politischen Auseinandersetzung wurde. 

Die Verfasser haben nie die »Repräsentativität« dieser Studie behauptet. Es ist auch nicht notwendig, um die Hypothese zu widerlegen. Um ihre Argumentation anzugreifen, wäre es nötig, daß die nicht in die Studie einbezogene Bevölkerung nicht nur ein wenig, sondern ganz deutlich andere und schlechtere Werte aufwiese. Das ist aber nicht der Fall.

Die »verdrehte Kritik« [9] ihrer Opponenten übersieht regelmäßig, daß alle die Daten und Ergebnisse mit Fehlern behaftet sind, und versucht ein kleinkariertes Herumdeuten an einzelnen Fakten, ohne je das Gesamtbild ins Auge zu bekommen. Da sieht das nämlich so aus: durch die Bank hat man in der Vergangenheit Untersuchungen an hochgradig nicht-repräsentativen Stichproben vorgenommen und unbefangen (oder sollte man sagen: unverschämt) verallgemeinert.

So wurde in der ständig zitierten Arbeit von KENDALL-TACKETT, WILLIAMS und dem Mißbrauchspapst FINKELHOR [3] Stichproben benutzt, deren Effektgrößen rund drei Standardabweichungen größer waren, als in vergleichbaren nichtklinischen Stichproben, und nur in eine Fußnote wurde dieser Problematik Erwähnung zuteil. [9, S. 748] Die Kritik [6], [1] zitiert diese Studie aber ohne Probleme, im selben Atemzug, in welchem sie [12] Selektionsbias vorwirft.

Interne Validität

Das nächste Kriterium nennt sich interne Validität. Wenn es keinen statistischen Zusammenhang gibt, so legt dies nahe, daß es in der Realität auch keinen kausalen Zusammenhang gibt. Wenn es einen statistischen Zusammenhang gibt, so folgt daraus noch nichts, denn es gibt das Problem der Störgrößenvermengung (confounding). Es ist genau wegen dieses Problemes, daß die Verfasser College-Studien genommen haben: dort gab es genug Informationen, um den Einfluß bekannter (!) Störgrößen zu untersuchen. Dabei gelang ihnen der Nachweis, daß das Familienumfeld den entscheidenden Einfluß auf die späteren psychischen Probleme hat, wobei sexuelle Aktivität mehr ein Symptom denn eine Ursache ist.

Auch hier schneiden die Kritiker mit ihren eigenen Arbeiten wesentlich schlechter ab. Die erwähnte Arbeit von von KENDALL-TACKETT, WILLIAMS und FINKELHOR [3] bringt es sogar fertig, Daten aus den Kindergartenfällen zu verwenden, obgleich jedem klar ist, daß die krasse Symptomatik dort das Ergebnis therapeutischer Intervention war; darüber hinaus haben sie »nie die Frage der Kausalität angeschnitten; stattdessen haben sie die Kausalität als gegeben unterstellt, und zwar so stark, daß sie die hohe Zahl von Kindern ohne Befund auf mangelhafte Diagnosen und nicht etwa darauf zurückführten, daß es gar keinen Schaden gegeben hatte.« [ 9, S.749]

Es gibt noch eine interessante Feststellung zu machen: Wie gesagt, »moderiert« das familiale Umfeld die Auswirkungen des Mißbrauchs. Wir können in unserer Gesellschaft immer erwarten, daß »mißbrauchte« Kinder schlechtere psychologische Meßwerte zeigen als andere, einfach weil aufgrund der negativen Haltung zu sexuellen Aktivitäten von Kindern es eher die »weniger braven«, die »asozialen« und »unterprivilegierten« Kinder sind, die solche Erfahrungen machen. Was als Kausalität gedeutet wird, ist also die Wirkung einer gemeinsamen Ursache.

Dies findet überraschend Bestätigung in Studien über sexual precociousness, worunter frühe sexuelle Erfahrungen mit Gleichaltrigen verstanden werden. Hier zeigt sich dasselbe Bild wie bei mißbrauchten Kindern, nämlich eine Korrelation mit einer Reihe von Problemen (ohne daß eine Kausalität von irgendeinem unterstellt würde). [ 9, S.746]

Genauigkeit

Darüberhinaus haben die Verfasser der Tendenz entgegenzuwirken versucht, die möglichen Folgen sexuellen Mißbrauchs zu übertreiben. Dies nennen sie das Präzisionsproblem und führen als ein Beispiel eine Untersuchung an, die sexuelle Zufriedenheit auf einer Skala von 1 (sehr gut) bis 5 erfragte und einen signifikanten Unterschied zwischen Mißbrauchsopfern (1.6) und der Kontrollgruppe (1.4) fand. Aus diesem kleinen Unterschied wurde flugs ein »Mißbehagen« bei den mißbrauchten Probanden, obwohl sie sich doch auch ganz wohl gefühlt hatten [ 8, S.217] Ähnlich ist es zu beurteilen, wenn [3] es als Anzeichen einer Schädigung behandeln, wenn Kinder ein sexuelles Verhalten oder Interesse zeigen, und dieses damit auf eine Stufe mit klinischen Symptomen wie Depression stellen.

Es ist den Verfassern vorgehalten worden, die von ihnen als klein bezeichneten Effekte seien doch bedeutsam, und zum Vergleich wurden der Effekt des Rauchens auf die Entstehung von Lungenkrebs und die prophylaktische Wirkung von Aspirin auf die Entstehung von Herzinfarkten angeführt. Die Verfasser schreiben dazu, daß zum einen die Kausalität in diesen Fällen in zum Teil Tausenden von Studien experimentell bewiesen wurden, und nicht einfach unterstellt, und daß zudem ein wenig mehr oder weniger an Depression z.B., um ein typisches Ergebnis von Mißbrauch zu nennen, nicht das gleiche Gewicht hat, wie an Lungenkrebs zu sterben oder nicht. Schließlich sind nur die Effekte bevor die oben erwähnten Störgrößen kontrolliert wurden, von vergleichbarer Größenordnung, danach sind sie klein und in der Regel nicht signifikant.

Objektivität

Wenn die Meta-Analyse [12] zu anderen Ergebnissen kam, als vorhergehende Übersichtsartikel, so liegt dies auch an deren mangelnder Objektivität oder, anders ausgedrückt, an ihrem Untersucherbias, der darin besteht, daß die subjektive Auswahl und Gewichtung der Ergebnisse einen ganz natürlich jene Daten übersehen läßt, die nicht »passen«. Deshalb haben sie eine Meta-Analyse durchgeführt. Meta-Analysen wurden unter anderem entwickelt, um alle vorhandenen Daten in kontrollierter Weise auszuschöpfen.

Begrifflichkeit 

Das letzte der Ziele von RIND, TROMOVITCH und BAUSERMAN war es, die Konstrukt-Validität des Mißbrauchsbegriffes zu prüfen und zu verbessern. Um nichts hat es so viel Ärger gegeben wie darum. Doch betrachten wir besser erst kurz die andere Kritik von ONDERSMA et al. [6].

Die Kritik von ONDERSMA et al.

Verglichen mit der statistischen Erbsenzählerei von DALLAM et al. [1] nimmt sich die Kritik von ONDERSMA et al. [6] irgendwie zivilisiert aus. Es werden Konzessionen gemacht (wo es gar nicht anders geht), man gibt sich versöhnlich. Das täuscht. Es ist bekanntlich ein klassischer Grundsatz des Liberalismus (an den freilich die letzten deutschen Justizminister nicht gerne erinnert werden wollten), daß nur das bestraft werden darf, was tatsächlich jemandem schadet, nicht, was nur irgendwelche moralische Ansprüche verletzt. Wehleidig-herablassend werden wir hier im Stile eines Politbüros belehrt, was alles nicht gesagt werden darf.

Das »gesunde Volksempfinden«, als wäre es unabhängig von der Expertenmeinung [14], soll also der fachwissenschaftlichen Kommunikation Grenzen setzen. Daß solche Zumutung in einer der prominentesten Zeitschriften ihres Faches erscheinen konnte, muß bedenklich stimmen; es wird zumindest jene nicht besänftigen, die schon im Einknicken der APA 1999 einen Verrat sahen an den Grundsätzen, nicht nur der Wissenschaft, sondern auch der Republik.

In diesem Sinne wird weiter beklagt, daß angeklagte »Kinderschänder« sich durch die Meta-Analyse mit Argumenten versehen könnten. Die z.T. erhebliche forensische Tätigkeit der anderen Seite ist kein Thema, sowenig wie die gesellschaftlichen Kosten in Form von barbarischen Strafen und sonstigen Konsequenzen, die eine (fahrlässig) fehlinformierte Politik zu ziehen bereit war. Im Gegenteil, dies alles kann ihres Beifalls sicher sein, wie es etwa die widerwärtige Haltung des Leadership Council im Fall »Amirault« zeigt. [13, 47ff.]

Gründe der Kampagne

Die heftige Reaktion auf den Rind et al. Artikel [12] gründete sich zum einen in einer tiefen Abneigung gegen die APA, der vorgeworfen wird, »Schuld an der Emanzipation der Homosexuellen« zu sein, weil sie nach der bahnbrechenden Untersuchung von Hooker(1957) langsam die Stigmatisierung der Homosexuellen als »pervers« zurückgenommen hat. Man erinnert sich sozusagen voller Nostalgie der fünfziger und sechziger Jahre, als die Homosexuellen kastriert, lobotomiert, registriert, bespitzelt, sicherheitsverwahrt wurden, als man ihre Post kontrollierte, in öffentlichen Toiletten Lockspitzel postierte und vieles andere mehr.

Man fürchtet (oder gibt es zumindest vor) demnächst, wenn man nicht wachsam sei, werde die internationale (um nicht zu sagen kommunistische) Verschwörung, die natürlich die APA fest im Griff habe, die Pädophilie ähnlich emanzipieren wie die Homosexualität, die nur durch solche Umtriebe legal und akzeptabel geworden sei. (Die oben genannten Exzesse mögen in Wahrheit einen Anteil gehabt haben.)

Und dann gibt es ein milliardenschweres Mißbrauchsgewerbe, das ständig um seine Umsätze fürchtet und sich seine Lobbyarbeit etwas kosten läßt. - Die Einführung der Schutzaltersgesetze (statutory rape) in den USA folgte auf die »Entdeckung« der weiblichen Prostitution, der sogenannten »white slavery«, anfangs des 20. Jahrhunderts. Dabei waren selbstverständlich freiwillige Kontakte gemeint. Aber schon damals gab es die Argumentationsfigur des falschen Bewußtseins: »Nur wenige Frauen werden jemals zugeben, daß sie zu diesem Leben als weiße Sklaven gezwungen wurden.«, und wilde Phantasien über Untergrundnetzwerke von Mädchenhändlern, [*3] anstatt »sich einzugestehen, daß Frauen der Arbeiterklasse Sex um des Geldes oder der Abwechslung willen [als Beruf] wählen würden« (vgl. [ 4, 97 n.11], meine Übers.)

Als in den zwanziger Jahren diese Gesetze, die ja auch den sexuellen Umgang der Jugendlichen miteinander verbaten, als nicht mehr zeitgemäß erschienen, wurde das Kriterium der Altersdifferenz dem Tatbestand hinzugefügt. Dabei haben die Experten aus der Psychiatrie sowohl die Sexualität der Kinder und Jugendlichen betont (namentlich unter dem Einfluß FREUDs), als auch mit dem Modell des Sexual-Psychopathen den gleichsam maßgeschneiderten Täter für die neuen Gesetze geliefert. 

Bis heute wirkt sich das so aus, daß der brutale Vergewaltiger, da er das richtige Objekt gewählt hat, als normal-entwickelt, geradezu (im Kontrast) harmlos und normal erscheint, während der Pädophile mit der geringsten Berührung, ja nur Betrachtung ja seine ganze pathologische Persönlichkeit demonstriert und klar macht, daß ihm nie zu trauen sein wird (dem Vernehmen nach gilt dies noch für die neuesten Modelle zur Bewertung der »Gefährlichkeit« der Täter). Von daher datiert auch die Orientierung am vermeintlichen Krankheitsbild »Pädophilie«, mit der Folge, daß die Bewertung von Taten nicht mehr wie gewohnt am Schaden, sondern am Grade der angenommenen »Perversion« sich orientierte. [14, 12, 30ff]

Mißbrauchsdefinition

Die Mißbrauchsforschung hat diese Definition von Mißbrauch übernommen, und man mag sich fragen, ob es sich überhaupt, angesichts der Abhängigkeit ihrer Kerndefinitionen um eine Wissenschaft i.e.S., handelt. Darf man sagen, die Mißbrauchsforschung sei nur eine Art von bürokratischem Putzerfisch oder wissenschaftlicher Knastbegrünung? Sehen sich die Mißbrauchsforscher vielleicht als Teil des öffentlichen Dienstes? Dann würde es nicht mehr wundern, daß sie für sich moralische und intellektuelle Schonräume beanspruchen.

Der Ton von [6] mag Anlaß sein, darüber nachzudenken. Sehr charakteristisch, weil außerhalb des öffentlichen Dienstes nicht lebensfähig, ist die fundamentale Ignoranz und Indifferenz allem gegenüber, was man mit »Kosten, Risiken (außer für die Karriere, natürlich) und Nebenwirkungen« bezeichnen kann (vgl. in diesem Zusammenhang [5]) Zum anderen ist die Diskussion um die Begriffsbildung, und dies war, wie gesagt, der eigentliche Streitpunkt, dieses rigide und zähe Verteidigen der legal-definierten, bzw. davon abgeleiteten Mißbrauchsdefinition, völlig im Einklang mit der Annahme bürokratischen (oder auch Kartell-) Verhaltens.

Für den Wissenschaftler ist klar, mit KANT zu sprechen, daß »Anschauung ohne Begriffe« blind ist, er möchte möglichst aussagekräftige Begriffe, die er aus der Realität gewinnen und an ihr prüfen will. Um dieser Konstrukt-Validität willen haben RIND et al. (auf Anregung eines Gutachters) vorgeschlagen, nicht von »Mißbrauch zu reden, »wenn es um freiwillige positiv empfundene sexuelle Handlungen von und mit Jugendlichen geht« [10] und damit eine Explosion ausgelöst. (Außerhalb des engen Kontextes der Mißbrauchsdebatte ist dies alles ziemlich selbstverständlich.) - Es ist interessant, daß dieser Gesichtspunkt in der europäischen Diskussion keine Rolle spielt, obwohl ja die Altersgrenzen unterschiedlich sind - eigentlich sollte da etwas nicht zusammenpassen

Zum Schluß

Halten wir fest: Niemand bezweifelt, daß es belastende sexuelle Episoden in Kindheit und Jugend gibt - es gibt sie ja bis ins Greisenalter. Und sicher können solche Belastungen für kürzere oder längere Zeit Folgen haben, Schäden verursachen, das alles in Abhängigkeit einerseits vom Individuum, andererseits von ihrer Art und Intensität. Das ist so unstrittig, wie es banal ist, und auch sicher keine Spezialität von Kindern.

Aber was die Kritiker mit verbissener Blindheit zu verteidigen suchen, die Auffassung, daß nur solche und immer und ausschließlich alle solche Episoden schaden, und immer und ausschließlich schwer schaden, geht an aller Wahrscheinlichkeit und Logik vorbei. Man lasse sich nicht von verbalen Zugeständnissen täuschen, die dazu bestimmt sind, die Anmaßung bekömmlicher erscheinen zu lassen: diese Leute wollen es gar nicht besser wissen. Ich will nicht spekulieren, warum; und nur nebenbei darauf hinweisen, daß wir auf die vor dreißig Jahren vom deutschen Gesetzgeber versprochene Untersuchung, die der damals nur »aufgeschobenen« Revision der Altersgrenzen im deutschen Sexualstrafrecht zugrunde gelegt werden sollte, immer noch vergeblich warten.

Wir werden die Kritiker also nicht überzeugen können und müssen nun, wie Max PLANCK einmal sagte, darauf warten, daß sie aussterben. In der Zwischenzeit sind wir aufgerufen, über die Konsequenzen solcher Auffassungen nachzudenken.

Kinder sind möglicherweise schutzbedürftiger, als wir als Gesellschaft wahrhaben wollen. Es fällt auf, daß bei Schulproblemen etwa, das Problem immer beim Kind gesehen wird, z.B. als Unangepaßtheit, Störung desselben. Das sind häufig schwere Belastungen für die Kinder, und es ist alles andere als klar, daß die Schule nicht verbesserungswürdig ist. 

Trotzdem hört man nur selten, daß Lehrer zur Rechenschaft gezogen werden, [*4] und ich bin wohl der einzige, der regelmäßig die Sicherungsverwahrung für Kultusminister, Serientäter par excellence, fordert. Ähnliches gilt für die Leiden, die familiäre Zerrissenheit und Scheidung den Kindern zufügen, und an die zu erinnern, ach, als politisch inopportun gilt. (Es lassen sich halt nicht alle Probleme einer für die Gesellschaft so einfachen und »befriedigenden« Lösung zuführen wie das der »Kinderschänder«.)

Schließlich ist das Feld der Sexualität und darin insbesondere das der Sexualität von Kindern und Jugendlichen nur wenig erforscht. [8] Einerseits bekommt man kein Geld dafür - RIND, TROMOVITCH und BAUSERMAN haben diese Arbeit in ihrer Freizeit geleistet, und es war eine Menge Arbeit - und in vielen Fällen ist es auch strafbar. Das sind keine guten Aussichten.

Hinweis

Bei http://www.ipce.org/Library/rbt_files.htm  findet
man eine Übersicht mit Arbeiten von und über Rind / Tromovitch / Bauserman.

[Start]     [Inhalt]     [New]     [Die Deutsche Seiten]     [RBT files overview]

Fußnote

[*1] Meta-Analyse [Zurück]

Eine mit quantitativen, statistischen Mitteln vorgenommene Zusammenfassung von (möglichst allen) vorliegenden Untersuchungen zu einem Thema. Herkömmlichen qualitativen, narrativen oder ähnlichen Methoden haushoch überlegen, wurde diese Verfahrensweise vor allem zum Ausgleich der Fehler durch kleine Stichproben und methodische Variabilität entwickelt. Ein wichtiges Anwendungsfeld ist, wie im vorliegenden Fall, die Prüfung der Validität von Ergebnissen, indem die Wirkungen von unterschiedlichen Methodenansätzen und -ausprägungen studiert werden.

 
[*2] zeigen [Zurück]

Die Meta-Analyse [12] bezog alle Symptome ein, die in mindestens zwei Untersuchungen vorkamen. Dazu gehörte die posttraumatische Belastungsstörung (PTSD), die gerne als besonders typisch für Mißbrauchsfälle genannt wird, nicht, war sie doch nur in einer dieser Arbeiten untersucht worden (mit unauffälligen Resultat übrigens, [9, S.738]). U.a. muß für sie in der Biographie ein »extremes« Trauma vorliegen und eine doch deutliche Symptomatik, die in den Primärstudien wenigstens teilweise erhoben wurden. - Es gibt kein sogenanntes »Syndrom« des Mißbrauchs, d.h. es gibt viele Symptome, bei denen »Signifikanz« erreicht wurde, mal dort, mal woanders, ohne daß ein Muster erkennbar wäre. Vgl. [2]

 
[*3] Mädchenhändlern [Zurück]

Amüsanterweise ging auch der berühmt-berüchtigte Adenauersche »E 1962« für ein neues StGB von solchen Tatsachen aus und mußte sich » sagen lassen, daß dergleichen reine Mythologie ist«. (Fritz Bauer)

 
[*4] werden [Zurück]

Der ahnungslose Staatsbürger erfährt nur beiläufig im Radio, daß in Deutschland Kinder nach (Verbüßung von) zehn Pflichtschuljahren als Analphabeten entlassen werden, weil sie etwa im ersten Schuljahr für längere Zeit krank waren

[Start]     [Inhalt]     [New]     [Die Deutsche Seiten]     [RBT files overview]